Die Lanze des Herrn
schimmerte das Licht. Raureif lag auf den Sträuchern und dem Gras der Wiesen. Ein eisiger Wind fuhr durch die restlichen Blätter der Bäume, deren herbstliches Rascheln ein morgendliches Gebet der Natur zu sein schien. Einsame Wege verloren sich im Wald, manchmal lag der Schatten eines erschreckten Pfaus darauf, manchmal der eines Wildschweins. Die Pferde antworteten mit einem Wiehern auf das durchdringende Krähen der Hähne, das in der ganzen Umgebung zu hören war.
Auf dem kleinen Bergfried der Komturei hatte Bertrand de Raguenaud die Fahne mit dem roten Kreuz gehisst, zum Zeichen seiner Treue gegenüber seinem Orden und als Symbol des Widerstands. Viel war geschehen, seit er aus dem Heiligen Land zurückgekehrt war. Der Niedergang des Ordens der Templer war nicht mehr aufzuhalten. Deshalb hatte der Ritter zur Feder gegriffen und seine Erinnerungen zu Papier gebracht. So würde von seinem bewegten Leben wenigstens etwas Staub bleiben, ein kleiner Rest seiner großen Augenblicke, etwas von ihm selbst, auch wenn er heute mit Bitterkeit und tiefem Kummer den Niedergang des Rittertums miterlebte, dem er sein Leben geweiht hatte.
In der Nachbarschaft erklangen Glocken von einem Kirchturm, dessen Wetterfahne sich im Wind drehte.
»Groß ist meine Trauer, denn heute wurde der Orden seines Führers beraubt, durch die Ungerechtigkeit eines Königs, der um seine Macht fürchtete, dabei waren wir seine treuesten Vasallen und die Diener Christi im Heiligen Land.«
Bertrand schloss die Augen und legte die Feder beiseite. Er fühlte sich sehr müde. Seine Lippen zitterten unter seinem aschgrauen Bart. So viele Bilder… So viele widerstreitende Erinnerungen. Heute verfolgte man die Templer wie Hexen. Bald würde niemand aus dem Orden übrig sein.
»Unmenschlichkeiten sind uns zu Ohren gekommen. Die Tempelbrüder sind Wölfe im Schafspelz. Sie kreuzigen aufs Neue unsern Herrn Jesus Christus und verhöhnen ihn mit schlimmeren Beschimpfungen als jene, die er am Kreuz erdulden musste.«
Mit diesen Worten hatte Philipp der Schöne die Verhaftung der Tempelritter in allen Vogteien eingeleitet. Die Ritter konnten es nicht glauben. Das musste ein Irrtum sein! Ein schreckliches Missverständnis! Man warf ihnen Götzenanbetung vor, scheußliche sexuelle Rituale, die heimliche Leugnung Christi. Bei der Aufnahme neuer Mitglieder, so hieß es, mussten diese auf das Kreuz spucken. Ausgerechnet ihnen warf man dergleichen vor! Den Helden des Heiligen Landes, die Kirche und Krone unablässig verteidigt hatten!
An diesem Freitag im November 1307 hatte Guillaume de Nogaret, der Kanzler des Königs, im ganzen Land eine große Razzia durchführen lassen. Von Provins bis Nantes, von Quercy bis in die Champagne waren die Ritter so überrascht gewesen, dass sie sich widerstandslos ergeben hatten, überzeugt, dass der Irrtum bald aufgeklärt würde. Darin täuschten sie sich jedoch. Schon lange misstrauten die Berater Philipps des Schönen der Macht der Templer. Sie seien ein Staat im Staate, warf man ihnen vor. Ihr Ansehen war zu groß. Deshalb sammelte der König Verleumdungen und falsche Beweise, um den Orden zu vernichten.
Der Erfolg der Verschwörung des Kanzlers gegen die Ritter übertraf alle Erwartungen. Großmeister Jacques de Molay, ein gebrochener alter Mann, war so geschickt gefoltert worden, dass er bereit gewesen war, vor den Inquisitoren und der Universität von Paris alle Beschuldigungen als wahr zu bestätigen. Unterdessen war es Papst Clemens V. in Rom nicht entgangen, dass der König es nicht nur auf den Orden, sondern auch auf seine eigene Macht abgesehen hatte.
Bertrand hob den Kopf. Ein Hustenanfall schüttelte ihn. Seine Schultern bebten.
Papst Clemens V., einst Erzbischof von Bordeaux, plante, nach Frankreich zurückzukehren, sich in Avignon niederzulassen und selbst den Prozess gegen die Templer zu führen. Am 22. November, zwei Tage, bevor Bertrand de Raguenaud seine Erinnerungen beendet hatte, forderte der Papst, der entschlossen war, alle namhaften Ordensritter selbst zu befragen, sämtliche christlichen Herrscher auf, die Templer in ihrem Land zu verhaften. Dies konnte auch so verstanden werden, dass er sie schützen wollte. Die Ritter hatten sich nicht getäuscht. Jacques de Molay nahm seine Aussagen zurück. Bald würden sich alle erheben, um die Ehre des Ordens zu verteidigen, sofern das noch möglich war. Einige Tempelritter hatten vor, nach Rom zu reisen, um dort ihre Sache zu vertreten und sich der
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