Die Lanze des Herrn
Soutane aus purpurfarbenem Moiré und ein mit Edelsteinen verziertes massives Goldkreuz um den Hals trug, begrüßte Judith mit dem bei manchen Kardinälen anzutreffenden herablassenden Lächeln.
Man forderte Judith auf, Platz zu nehmen.
»Die Entwicklung des Embryos scheint normal zu verlaufen«, begann der Heilige Vater. »Wir haben allen Grund davon auszugehen, dass die Geburt in acht Monaten stattfinden wird. Wir müssen nun entscheiden, was mit dem Kind und seiner Mutter geschehen soll.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Der Papst blickte auf die glatte, glänzende Oberfläche des Albaner Sees. Er wusste, dass er die unglaublichste Diskussion, die in der katholischen Kirche jemals auf höchster Ebene geführt worden war, eröffnet hatte.
Kardinal Acquaviva ergriff als Erster das Wort:
»Heiliger Vater, ich glaube, wir sind gezwungen, eine außergewöhnliche Entscheidung zu treffen. Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich denke nicht, dass es eine Lösung gibt. Nicht nur gibt es keinen Präzedenzfall, wir haben es darüber hinaus mit einem einmaligen Ereignis zu tun.«
Er suchte nach Worten.
»Können wir wirklich ermessen, was hier geschieht?«, fuhr er fort. »Dies ist eine Revolution, Euer Heiligkeit! Die größte in der Geschichte der Menschheit. Ein grundlegender Bruch mit der Vergangenheit. Zum ersten Mal haben sich Geschöpfe die Rolle des Schöpfers angemaßt. Unsere Art wird plötzlich zu ihrem eigenen Ursprung. Zugleich verändert sie sich. Sie führt ihre eigene Mutation herbei. Dadurch kann die Substanz der geltenden Philosophie und Theologie zerstört werden, Heiliger Vater. Das weiß ich, und Sie wissen es nicht weniger. Wir alle hier in diesem Raum. Aber nun sitzen wir in der Falle.«
Der Kardinal stand auf. Dabei zog er aus den Ärmeln seiner Soutane vier Bücher, die er mitgebracht hatte und die weder Judith noch die anderen vorher bemerkt hatten.
Er sah den Papst an, ging auf dessen Schreibtisch zu und zog einen kleinen Papierkorb zu sich heran.
»Beginnen wir mit den weltlichen Autoren«, sagte er mit seinem salbungsvollen Lächeln, das jetzt einen Anflug von Bitterkeit enthielt.
Er zeigte ihnen das erste Buch.
»Hegel«, sagte er. »Phänomenologie des Geistes.«
Er wartete eine Sekunde, dann ließ er das Buch in den Papierkorb fallen wie in einen Brunnen. Der dumpfe Aufprall klang ihnen in den Ohren.
»Kant. Kritik der reinen Vernunft und Kritik der praktischen Vernunft.«
Auch diesen Band ließ er in den Papierkorb fallen.
»Die Ethik von Spinoza.«
Wieder warf er den Band in den Papierkorb.
»Ich hätte noch andere mitbringen können. So viele andere. Plato und Aristoteles, Thomas von Aquin und Augustin, Pascal und Teilhard de Chardin…«
Dann zeigte er den Anwesenden das letzte Buch.
»Die Bibel«, sagte er. »Die heilige Schrift.«
Er sah dem Papst geradewegs in die Augen.
»Soll ich sie auch wegwerfen?«
Eine Weile schien das Buch im Leeren zu schweben, dann steckte der Kardinal es wieder in den Ärmel seiner Soutane.
»Ich will Folgendes damit sagen, Heiliger Vater. Sobald dieses Kind geboren wird, werden alle bisherigen geistigen Bemühungen der Menschheit hinfällig sein. Der Mensch, geschaffen nach dem Bilde Gottes… Der Klon, geschaffen nach dem Bild des Menschen. An dem Tag, da der Mensch sich selbst schaffen kann, muss die gesamte Ontologie neu überdacht werden. Mit dieser Geburt könnte der Mensch, wie wir ihn kennen, zu einer aussterbenden Spezies werden. Alle Philosophien und allen voran unsere, die christliche, werden ihre Bedeutung verlieren. Zu dem neuen Geschlecht werden sie nicht mehr passen. So wird unsere Zukunft aussehen. Axus Mundi hat ein furchtbares Ereignis vorbereitet. Die Fleischwerdung Gottes auf Erden? Das Gesicht Gottes in uns? Und es wird behandelt wie eine Karnevalsmaske?«
Sein Gesicht wurde umso röter, je mehr er sich erregte.
»Das Gleichgewicht der Menschheit steht auf dem Spiel. Die Welt der Klone, wie wird sie aussehen? Ich werde sie Ihnen beschreiben. Es wird eine Welt sein, in der jede Frau das Grab ihrer Großmutter öffnen kann und aus einem Haar das genetische Material für eine Befruchtung gewinnen kann. Sie könnte von ihrer Ahnin schwanger werden! Eine Welt, in der man einen Ehemann wieder zum Leben erwecken kann, dessen Tod man nicht verkraftet, oder ein Kind, das an einer Krankheit gestorben ist! Die Frauen können sogar sich selbst austragen, um sich selbst zu überleben. Auch wenn biologisch und genetisch die
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