Die Lanze des Herrn
Verfolgung durch Philipp den Schönen zu entziehen. Bertrand, der bisher von Verfolgungen verschont geblieben war, wollte ebenfalls nach der Ewigen Stadt aufbrechen.
Er sollte seine letzte Reise antreten.
Langsam las er noch einmal durch, was er geschrieben hatte.
»Was haben wir nur getan? Was haben wir im Heiligen Land gemacht und warum? Heute frage ich mich, was wir mit all dem vergossenen Blut gewonnen haben. Heute, wo selbst der König uns verleugnet, jagt und foltert! Ich werde bis zu meinem letzten Atemzug daran denken, dass man mich den Ritter der Engel nannte oder den Ritter der Lanze und dass man mich mit Flügeln dargestellt hat.
Es war in Akko im Jahr MCCXCI, als sich das Schicksal des christlichen Reichs im Vorderen Orient entschied. Da ließ ich, Bertrand de Raguenaud, Ritter der Templer und der Komturei von Saint-Clair, die Zahl MCCXCI auf meinen Schild eingravieren. An jenem Tag im Mai, da der Sultan vor unseren Toren stand, hielt ich die Lanze Christi in der Hand. Ja, in jenen dunklen Tagen war sie mein, die Schicksalslanze.
Jetzt bin ich alt, müde und krank. Es heißt, ein leichter Schwachsinn habe sich meiner bemächtigt. Ich vergesse sogleich, was soeben geschah, ich weiß nicht mehr, was am Vortag war. Ganze Teile meines Gedächtnisses verschwinden. Ziemlich dumm komme ich daher, ich, der Ritter aus dem Heiligen Land. Deshalb war es gut, dass ich meinen Bericht beendet habe, bevor mich eine letzte Krankheit dahinrafft. Wenn ich Glück habe, erreiche ich Rom noch rechtzeitig.
Die Jahre haben mein Haar zu früh gebleicht. Aber nun, da mein Ende naht, das meine und das meiner Odyssee, und ich mich frage, wie ich meine Memoiren abschließen soll, fällt mir nur eines ein:
Ich habe einen Wimpernschlag lang die allerhöchste Macht erlebt, die Macht, wie Gott zu sein.
Und ich habe erkannt, dass diese Macht nicht für mich bestimmt war und auch für keinen Menschen sonst.
Denn die wahre Macht ist die Liebe.«
Bertrand legte seinen Gänsekiel nieder und sah lange aus dem Fenster.
Im Morgengrauen wollte er die Komturei verlassen.
♦♦♦
Zwei Jahre dauerte seine gefahrvolle Reise nach Rom. Zwei Jahre, in denen das Schicksal der Templer in der Schwebe blieb.
Der Papst ließ sich in Avignon nieder. Bertrand gehorchte seinem geheimnisvollen Wahn. Er verlor immer mehr den Verstand. Von Herberge zu Herberge, von Dorf zu Dorf setzte der einstige Ritter der Wüste seinen Weg nach Rom fort, ohne zu wissen, dass das Oberhaupt der Kirche längst nicht mehr dort residierte. Manchmal wusste er gar nichts mehr, manchmal hatte er klare Momente, dann schwitzte und zitterte er und wurde ängstlich. Seinen Knappen Etienne hatte er in Akko verloren. Alle seine Freunde waren gestorben, und die Frauen, die er einst geliebt hatte, waren nur noch blasse Erinnerungen.
Tausendmal verirrte er sich und wusste manchmal nicht mehr, wohin er eigentlich wollte. Es sprach sich herum, dass der ausgemergelte Ritter mit dem zerbrochenen Schild nicht mehr klar im Kopf war. Sein Ruf eilte ihm voraus. Für einige Menschen war er ein Geist, der prophetisch von der Heiligen Lanze und der Macht des Menschen sprach. Andere machten sich über ihn lustig. Er erzählte allen, die es hören wollten, dass eines Tages der Messias wiederkehren würde, aber auch, dass der Wolf im Schafspelz kommen könnte und noch andere geheimnisvolle Dinge geschehen könnten. Manchmal versuchte er, sein Schwert zu zücken und auf irgendwelche eingebildeten Gestalten loszugehen. Er war verrückt, aber man erbarmte sich seiner.
Eines Tages erreichte er Rom; er war inzwischen mit seinen Kräften völlig am Ende. Wie ein Phantom kam er auf seinem Pferd angetrottet, dessen Hufe auf dem Pflaster widerhallten. Das Schicksal wollte es, dass er just in dem Moment verschied, als er den Petersdom erreichte und vom Pferd steigen wollte, um den Papst zu begrüßen, der gar nicht mehr in Rom war. Die seltsamen Umstände seines Todes lösten Verwunderung aus. Den Heiligen Vater berührten insgeheim die Geschichten, die man ihm vom Leben dieses Mannes erzählte, der Christus redlich gedient hatte und dabei nur Blutvergießen und Unverstand begegnet war. Aber der Papst ahnte nicht, dass Bertrand unter seiner rostigen Rüstung die Pergamente von Akko und das echte Testament des Longinus aufbewahrt hatte, in dem die genaue Lage der Kapelle von Megiddo verzeichnet war.
Der Heilige Vater gewährte dem Kreuzritter die Gunst, auf dem antiken Friedhof bei den
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