Die Larve
Herdentiere. Ein Vater würde seinen biologischen Sohn beschützen, ein Bruder seine biologische Schwester. In einem Konflikt würden wir instinktiv Partei ergreifen für denjenigen, der uns am ähnlichsten sieht. Stellen Sie sich mal vor, Sie wären im Dschungel und kämen um eine Ecke und plötzlich stünde ein anderer weißer Mann vor Ihnen – gekleidet wie Sie – und kämpfte mit einem halbnackten Schwarzen mit Kriegsbemalung. Beide hätten Messer und kämpften auf Leben und Tod, und Sie hielten eine Pistole in der Hand. Was wäre Ihr erster Impuls? Den Weißen zu erschießen, um den Schwarzen zu retten? Nicht?«
»Hm, und was beweist das?«
»Das beweist, dass unsere Loyalität biologisch bestimmt ist. Wie Kreise, die von einem Zentrum ausgehen, das wir selbst mit unseren Genen bestimmen.«
»Sie würden also einen der beiden erschießen, um Ihre eigenen Gene zu schützen?«
»Ohne zu zögern.«
»Und warum nicht beide töten, um auf der sicheren Seite zu sein?«
Sie sah ihn an. »Wie meinen Sie das denn?«
»Was haben Sie an dem Abend gemacht, an dem Gusto ermordet worden ist?«
»Was?« Sie kniff ein Auge zusammen, blinzelte in die Sonne und sah ihn breit lächelnd an. »Harry! Verdächtigen Sie mich, Gusto umgebracht und es jetzt auf diesen … Oleg abgesehen zu haben?«
»Antworten Sie einfach.«
»Ich erinnere mich daran, wo ich war, weil ich darüber nachgedacht habe, als ich in der Zeitung von dem Mord gelesen habe. Ich hatte eine Sitzung mit den Repräsentanten der städtischen Drogenfahndung. Das sollten glaubhafte Zeugen sein. Wollen Sie Namen?«
Harry schüttelte den Kopf.
»Sonst noch was?«
»Nun, dieser Dubai. Was wissen Sie über den?«
»Dubai, ja. Genauso wenig wie alle anderen. Es wird über ihn geredet, die Polizei kommt aber nicht weiter. Das ist typisch, die Hintermänner schaffen es immer, sich irgendwie zu entziehen.« Harry achtete auf ihre Pupillen und die Farbe ihrer Wangen, doch da war keine Veränderung auszumachen. Wenn Isabelle Skøyen log, log sie gut.
»Ich frage, weil Sie alle Drogenbanden aus den Straßen vertrieben haben, nur Dubai nicht. Sieht man mal von ein paar kleineren Dealerbanden ab.«
»Nicht ich, Harry. Ich bin bloß eine Senatssekretärin, die den Vorgaben ihrer Vorgesetzten und den Beschlüssen der städtischen Politik folgt. Und was die Säuberungen auf den Straßen angeht, so war das weitestgehend die Polizei.«
»Hm. Norwegen ist ein kleines Märchenland. Ich aber habe die letzten Jahre in der wirklichen Welt zugebracht, Skøyen. Und diese Welt wird von zwei Arten von Menschen regiert. Denjenigen, die Macht wollen, und denen, die Geld wollen. Die erste Gruppe will ein Denkmal, die andere ist auf Genuss und ein schönes Leben aus. Die Währung, die sie nutzen, um miteinander ins Geschäft zu kommen, nennt sich Korruption.«
»Ich habe heute noch einiges zu erledigen, Hole. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Nun, vielleicht hat es den anderen einfach an Mut oder Phantasie gefehlt. Wohnt man lange in einer Stadt, sieht man das große Ganze gerne als eine Art Mosaik aus vertrauten Details. Doch jemand, der zurück in die Stadt kommt und die Details nicht kennt, sieht nur das ganze Bild. Und an diesem Bild lässt sich ablesen, dass die derzeitige Situation für zwei Seiten Vorteile bringt, für die Dealer, die den Markt für sich haben, und für die Politiker, die sich auf ihre Fahnen schreiben können, anständig aufgeräumt zu haben.«
»Wollen Sie behaupten, ich sei korrupt?«
»Sind Sie es?«
Er sah echte Wut in ihren Augen, fragte sich aber, ob das die Wut der Gerechten oder der Durchschauten war. Dann lachte sie plötzlich. Ein trillerndes, überraschend mädchenhaftes Lachen.
»Ich mag Sie, Harry.« Sie stand auf. »Ich kenne die Männer. In der Regel reden die ständig um den heißen Brei herum. Aber Sie sind da wohl eine Ausnahme.«
»Tja«, sagte Harry. »Dann wissen Sie ja auf jeden Fall, wie Sie mich einschätzen müssen.«
»Die Wirklichkeit ruft, Schatz.«
Harry drehte sich um und sah Isabelle Skøyens wuchtiges Hinterteil in Richtung Pferde gehen.
Er folgte ihr. Saß auf Balder auf. Bekam die Füße in die Steigbügel, blickte auf und begegnete Isabelles Blick. Ein kleines, herausforderndes Lächeln blitzte in dem harten, sauber gemeißelten Gesicht auf. Sie schürzte die Lippen zu einem Kuss, machte einen obszönen Schmatzlaut und drückte die Hacken in die Flanken von Medusa. Ihr Rücken federte elegant, als das große Tier
Weitere Kostenlose Bücher