Die Larve
Der Mann kratzte sich mit einer Karte, die er um den Hals hängen hatte, am Kinn. Manche Polizisten trugen ihre ID -Karten so, wenn sie jemanden verhaften sollten. Verdammt! Die Polizei war schneller gewesen als Dubai.
Harry zögerte. Hatte der Typ einen Haftbefehl, hatte er auch einen Durchsuchungsbeschluss, und mit dem hätte er unten an der Rezeption den Generalschlüssel bekommen. Harrys Hirn kalkulierte. Er schlich zurück, schob das Gewehr hinter den Kleiderschrank, ging zur Tür und öffnete. Fragte: »Was wollen Sie und wer sind Sie?«, während er kurz einen Blick nach rechts und links in den Flur warf.
»Mann, wie sehen Sie denn aus, Hole. Darf ich reinkommen?«, er hielt ihm die ID -Karte hin.
Harry las den Aufdruck. »Truls Berntsen. Sie haben mal für Bellman gearbeitet, nicht wahr?«
»Das tue ich noch immer. Er lässt Ihnen Grüße ausrichten.«
Harry trat zur Seite und ließ Berntsen eintreten.
»Nett«, sagte Berntsen und sah sich um.
»Setzen Sie sich«, sagte Harry und zeigte aufs Bett, während er sich selbst auf den Stuhl am Fenster setzte.
»Kaugummi?«, fragte Berntsen und streckte ihm das Päckchen hin.
»Nicht gut für die Zähne. Was wollen Sie?«
»Freundlich wie immer?« Berntsen grinste breit, faltete einen Kaugummi zusammen, steckte ihn sich in seinen Schubladenkiefer und nahm Platz.
Harry registrierte Tonfall, Körpersprache, Augenbewegungen und Gerüche. Der Mann wirkte entspannt, dabei aber auch bedrohlich. Offene Handflächen, keine hektischen Bewegungen, doch seine Augen sammelten Informationen, lasen die Situation und bereiteten etwas vor. Harry bereute es bereits, das Gewehr hinter den Schrank geschoben zu haben. Die fehlende Erlaubnis, Waffen zu tragen, war im Augenblick sein geringstes Problem.
»Die Sache ist die. Wir haben Blut auf Gusto Hanssens Hemd gefunden. Die Sache steht in Zusammenhang mit einer Grabschändung im Vestre Gravlund gestern Abend. Die DNA -Analyse hat ergeben, dass es sich um Ihr Blut handelt.«
Harry sah zu, wie Berntsen das Silberpapier, das um den Kaugummi gewickelt gewesen war, sorgsam zusammenfaltete. Er erinnerte sich jetzt besser an ihn. Berntsen wurde Beavis genannt und war so etwas wie Bellmans Laufbursche. Dumm, aber gerissen. Und gefährlich. Forrest Gump gone bad .
»Ich habe wirklich keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte Harry.
»Na, dann«, sagte Berntsen und seufzte. »Vielleicht ein Fehler in der Datenbank? Dann sollten Sie sich anziehen, damit ich Sie ins Präsidium fahren kann, um schnell eine neue Blutprobe zu nehmen.«
»Ich suche nach einem Mädchen«, sagte Harry. »Irene Hanssen.«
»Liegt die auf dem Vestre Gravlund?«
»Auf jeden Fall wird sie seit Sommer vermisst. Sie ist die Stiefschwester von Gusto Hanssen.«
»Das ist mir neu. Aber wie auch immer, Sie sollten mitkommen …«
»Es handelt sich um das Mädchen in der Mitte«, sagte Harry. Er hatte das Bild der Familie Hanssen aus der Jackentasche gezogen und gab es Berntsen. »Ich brauche noch ein bisschen Zeit. Nicht viel. Danach werden Sie verstehen, warum ich so vorgehen musste. Ich verspreche, mich selbst in achtundvierzig Stunden zu stellen.«
»Achtundvierzig Stunden?« , fragte Berntsen und studierte das Bild. »Ein guter Film. Nolte und dieser Neger. McMurphy?«
»Murphy.«
»Genau. Irgendwie ist der nicht mehr lustig. Ist das nicht komisch? Da hat man etwas, und plötzlich, eines Tages, ist es weg. Wie fühlt sich das an, Hole?«
Harry musterte Truls Berntsen. Er war sich nicht mehr so sicher, ob das mit Forrest Gump stimmte. Berntsen hielt das Bild in den Lichtschein. Blinzelte konzentriert.
»Erkennen Sie sie?«
»Nein«, sagte Berntsen, gab ihm das Bild zurück und setzte sich etwas anders hin. Anscheinend war es nicht so bequem, auf dem Stoffstück zu sitzen, das er in der Hosentasche hatte, denn er stopfte es mit einem Mal mit einer raschen Bewegung in seine Jackentasche. »Lassen Sie uns kurz ins Präsidium fahren und da über Ihre achtundvierzig Stunden reden.«
Sein Tonfall war leicht. Zu leicht. Außerdem war Harry etwas in den Sinn gekommen. Beate hatte in der Rechtsmedizin darum gebeten, seine Proben vorzuziehen, aber trotzdem lag noch kein endgültiges Ergebnis vor. Wie konnte es da sein, dass Berntsen schon das Blut auf Gustos Leichenhemd analysiert bekommen hatte? Und da war noch etwas. Berntsen hatte das Stück Stoff nicht schnell genug weggesteckt. Das war keine Mütze, sondern eine Balaklava. So eine Sturmhaube, wie sie bei der
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