Die Larve
wieder »easy« sagte, wie ein stummer Schrei in einer Feuerpause, während sie mit ihren Waffen aufeinander zielten. Der Vielfraß. Der Fahrer der Limousine vor dem Gamlebyen Friedhof. Dubais Mann. Als der Mann sich nach unten beugte, um den schwergewichtigen Kollegen mitzunehmen, den Truls erschossen hatte, musste er die Waffe sinken lassen. In diesem Moment hatte Truls erkannt, dass dieser Mann bereit war, sein Leben zu riskieren, nur um seinen Kumpel nicht zurückzulassen. Das Vielfraßgesicht musste ein Exsoldat sein, ein Expolizist oder sonst irgendjemand, der auf seinen Ehrenkodex getrimmt war. Im selben Moment hatte der Große ein Stöhnen von sich gegeben. Dass er noch am Leben war, erleichterte Truls, enttäuschte ihn andererseits aber auch ein bisschen. Er hatte das Vielfraßgesicht gewähren lassen und ihm dabei zugesehen, wie es den Großen auf die Beine zog und dann über den Flur schleppte, wobei das Gurgeln des Blutes zu hören gewesen war. Als sie weg waren, hatte er sich die Balaklava übergestreift und war aus dem Haus gestürmt, vorbei an der Rezeption, bis zu seinem Saab, mit dem er dann direkt hergekommen war. Er hatte es nicht gewagt, nach Hause zu fahren. Für solche Momente hatte er diesen Ort, sein geheimes Versteck, das nur er kannte. Wo niemand ihn sah, wohin er aber gehen konnte, wenn er sie sehen wollte.
Das Versteck lag in Manglerud, inmitten eines beliebten Wandergebietes, aber wer hier herumspazierte, hielt sich an die Wege und kam nie hier hoch, auf seinen von Dickicht umrankten Felsen.
Das Haus von Mikael und Ulla Bellman lag am Hang gegenüber, so dass er einen perfekten Blick in das Wohnzimmer hatte, in dem er sie so viele Abende auf dem Sofa hatte sitzen sehen. Ihr hübsches Gesicht und ihr schlanker Körper hatten sich mit den Jahren kaum verändert. Sie war noch immer Ulla – das schönste Mädchen aus ganz Manglerud. Manchmal saß auch Mikael dort, und mitunter hatte er gesehen, wie sie sich geküsst und gestreichelt hatten, aber bevor mehr geschehen war, waren sie immer im Schlafzimmer verschwunden. Er war sich nicht sicher, aber vermutlich war ihm das ganz recht so. Am liebsten sah er sie allein dort sitzen. Mit einem Buch auf dem Sofa, die Füße unter sich hochgezogen. An manchen Tagen warf sie einen Blick aus dem Wohnzimmerfenster, als fühlte sie sich beobachtet. In diesen Momenten spürte er, wie ihn der Gedanke erregte, dass sie vielleicht alles wusste und ahnte, dass er irgendwo dort draußen hockte.
Jetzt aber war das Wohnzimmerfenster dunkel. Sie waren weggezogen. Sie war weggezogen. Und im Umfeld des neuen Hauses gab es keine sicheren Aussichtspunkte. Das hatte er längst überprüft. Wie die Dinge lagen, würde er aber keinen solchen Ort mehr brauchen. Wenn er denn überhaupt noch irgendetwas brauchte, denn von nun an war er gebrandmarkt.
Sie hatten ihn dazu verleitet, Hole um Mitternacht im Leons aufzusuchen, und waren dann zum Angriff übergegangen, um ihn loszuwerden, um ihren Brenner zu verbrennen. Aber warum? Weil er zu viel wusste? Dabei lag das in der Natur der Sache. Er war schließlich ein Brenner, und Brenner wussten immer zu viel. Er verstand das Ganze nicht, verdammt! Andererseits konnte ihm das Warum eigentlich auch vollkommen egal sein. In seiner jetzigen Situation ging es einzig und allein darum, am Leben zu bleiben.
Er war so müde und durchgefroren, dass seine Knochen weh taten, trotzdem wagte er es nicht, nach Hause zu gehen, ehe es hell wurde und er die Gegend überprüft hatte. Schaffte er es in seine eigene Wohnung, hatte er genug Artillerie, um auch eine Belagerung zu überstehen. Natürlich hätte er sie beide erschießen sollen, als er die Gelegenheit dazu hatte, und sollten sie es noch einmal versuchen, würde er ihnen schon zeigen, dass man einen Truls Berntsen nicht so schnell in die Knie zwang.
Truls stand auf. Wischte sich die Nadeln von den Kleidern und schlug schlotternd mit den Armen um sich. Dann sah er noch einmal zum Haus hinüber. Es wurde langsam hell. Er dachte an all die anderen Ullas. Zum Beispiel die kleine, dunkle im Fyrlyset. Martine. Eine Zeitlang hatte er wirklich geglaubt, sie kriegen zu können. Sie arbeitete inmitten gefährlicher Menschen, und er konnte sie beschützen, aber auch sie hatte ihn übersehen. Wie gewöhnlich hatte er nicht den Mumm gehabt, zu ihr zu gehen und sich eine Abfuhr zu holen. Da war es doch besser, abzuwarten und weiter zu hoffen, es in die Länge zu ziehen, sich selbst zu quälen und
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