Die Larve
der sich zwischen dem Polizeipräsidium und den grauen Mauern des Kreisgefängnisses erstreckte. Ein Mann hängte an einem Baum ein zerrissenes, rotes Plakat auf. Er ging rücksichtslos mit einer Nagelmaschine zu Werk und schien wirklich nicht einen Gedanken an die hundertjährigen, geschützten Linden zu verschwenden. Vermutlich war er sich gar nicht bewusst, dass er direkt vor den Fenstern des Gebäudes, in dem sich die landesweit größte Ansammlung norwegischer Polizisten befand, eine schwere Straftat beging. Harry blieb einen Augenblick stehen. Nicht um ihn an seinem Vergehen zu hindern, sondern um einen Blick auf das Plakat zu werfen. Es kündigte ein Konzert des russischen Amcar Clubs im Sardines an. Harry erinnerte sich sowohl an die längst aufgelöste Band als auch an die inzwischen geschlossene Kneipe. Olympen. Harry Hole. Allem Anschein nach war dieses Jahr wirklich das Jahr der von den Toten Auferstandenen. Er wollte gerade weitergehen, als er hinter sich eine zitternde Stimme hörte.
»Hast’u Violin?«
Harry drehte sich um. Der Mann hinter ihm trug eine neue, saubere G-Star-Jacke. Er stand vornübergebeugt wie bei starkem Rückenwind, und seine Knie zeigten den typischen Junkiewinkel. Harry wollte gerade antworten, als er erkannte, dass der Mann den Plakatierer gemeint hatte, der ließ ihn aber einfach ohne ein Wort stehen. Neue Dezernatsnamen, neue Dopebezeichnungen. Alte Bands, alte Clubs.
Die Fassade des Osloer Kreisgefängnisses, im Volksmund nur Botsen genannt, war Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut worden und bestand aus einem zwischen zwei breiten Flügeln eingeklemmten Eingangsbereich, der Harry immer an einen Gefangenen zwischen zwei Wärtern denken ließ. Er klingelte an der Tür, blickte in die Videokamera, hörte das leise Summen und schob die Tür auf. Drinnen stand ein uniformierter Gefängnisangestellter, der ihn über eine Treppe nach oben führte, durch eine Tür und vorbei an zwei weiteren Wärtern, bis sie in den länglichen, fensterlosen Besuchsraum kamen. Harry kannte diesen Raum. Er wusste, dass die Häftlinge hier ihre nächsten Angehörigen treffen durften. Halbherzig war versucht worden, den Raum etwas gemütlicher zu gestalten. Er machte einen Bogen um das Sofa und setzte sich auf einen Stuhl. Zu genau wusste er, was dort in den wenigen Minuten abging, in denen die Häftlinge mit ihren Frauen oder Geliebten allein waren.
Er wartete. Registrierte, dass er noch immer den Besucher-Aufkleber des Präsidiums am Revers hatte, zog ihn ab und steckte ihn in die Tasche. Der Traum von dem langen Gang und der Lawine war schlimmer gewesen als sonst. Diesmal hatte der Schnee ihn unter sich begraben und in den Mund gepresst. Aber nicht deshalb klopfte sein Herz so wild. War das die Vorfreude? Die Angst?
Er kam zu keinem Schluss, bis die Tür geöffnet wurde.
»Zwanzig Minuten«, sagte der Gefängniswärter, ging und warf die Tür zu.
Der junge Mann, der mit ihm in den Raum getreten war, sah vollkommen anders aus, als Harry ihn in Erinnerung hatte. Fast hätte er gerufen, dass sie ihm den Falschen gebracht hätten, das war nicht der, den er sehen wollte. Der Junge trug eine Diesel-Jeans und einen schwarzen Kapuzenpulli mit Werbung für Machine Head. Aber nicht für die alte Deep-Purple-Platte, sondern für eine – nach seiner Zeitrechnung – neue Heavy-Metal-Band. Andererseits war die Musikrichtung ein Indiz, den endgültigen Beweis erbrachten aber die Augen und die Wangenknochen. Genauer gesagt: Rakels braune Augen und hohe Wangenknochen. Die Ähnlichkeit war beinahe schockierend, wenn er auch nicht die Schönheit seiner Mutter geerbt hatte. Seine Stirn wölbte sich vor und gab ihm etwas Düsteres, fast Aggressives. Die glatten Haare, die er nach Harrys Meinung von seinem Vater in Moskau geerbt haben musste – einem Alkoholiker, der den Jungen nie richtig kennengelernt hatte –, unterstrichen diesen Eindruck noch. Der Junge war erst ein paar Jahre alt gewesen, als Rakel mit ihm zurück nach Oslo gezogen war, wo sie später Harry getroffen hatte.
Rakel.
Die Liebe seines Lebens. So einfach war das. Und doch so schwer.
Oleg. Der kluge, ernste Oleg. Der verschlossene Junge, der sich außer Harry niemandem geöffnet hatte. Harry hatte Rakel das nie gesagt, aber er wusste mehr darüber, was Oleg dachte, fühlte und wollte, als sie. Oleg und er, während sie gemeinsam auf seinem Gameboy Tetris spielten, beide gleichermaßen darauf erpicht, den Rekord des anderen zu brechen. Oleg und
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