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Die Larve

Die Larve

Titel: Die Larve Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Tupolev flog tief und warf ihr Licht durch das Dachfenster ins Wohnzimmer, so dass Tord für einen Augenblick auf sein eigenes Spiegelbild im Fenster starrte.
    Dann war es wieder dunkel. Trotzdem. Er hatte es gesehen. Hatte in seinem Blick erkannt, was er auch in den Augen seiner Kollegen sehen würde. Verachtung, Ablehnung und – am schlimmsten von allem – Mitleid.
    Domestic . Wir werden Sie im Auge behalten. I see you .
    Konnte er keine Auslandsflüge mehr machen, war er für sie wertlos. Dann war er nicht mehr als ein verzweifeltes, verschuldetes, kokainabhängiges Risiko. Ein Mann im Sucher der Polizei, ein Mann unter Druck. Er wusste nicht viel, aber das wenige, was er mitbekommen hatte, reichte bereits aus, um die Infrastruktur, die sie sich aufgebaut hatten, zu zerstören. Sie würden tun, was sie tun mussten, daran bestand kein Zweifel. Tord Schultz legte die Hände hinter den Kopf und stöhnte leise. Er war nicht dafür geboren, Düsenjäger zu fliegen. Die Maschine war ins Trudeln geraten, sie drehte sich immer schneller, und er hatte keine Ahnung, was er tun musste, um sie wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er hatte es einfach nicht in sich und sah den kreiselnden Boden immer schneller auf sich zurasen. Er hatte keine Wahl, seine einzige Chance zu überleben bestand darin, den Düsenjäger zu opfern und den Schleudersitz auszulösen. Er musste raus, jetzt.
    Aber wenn er zur Polizei ging, musste er sich an jemanden wenden, der weit genug oben war. Jemanden, bei dem er sich sicher sein konnte, dass er nicht auch auf der Schmiergeldliste der Drogenliga stand. Er musste sich an die Spitze wenden.
    Ja, dachte Tord Schultz, atmete aus und spürte, wie sich Muskeln entkrampften, deren Anspannung er gar nicht bemerkt hatte. Die Spitze. Er musste sich an die Spitze wenden.
    Aber erst ein Drink.
    Und eine Line.
    Harry bekam den Zimmerschlüssel von demselben jungen Mann an der Rezeption ausgehändigt.
    Er bedankte sich und ging mit langen Schritten die Treppe hoch. Auf dem Weg von der U-Bahn-Haltestelle am Egertorget bis zum Leons hatte er nicht ein Arsenal-Trikot gesehen.
    Als er sich Zimmer 301 näherte, wurde er langsamer. Zwei Glühbirnen unter der Decke waren kaputt, so dass er das Licht, das unter seiner Tür hindurchfiel, sofort bemerkte. Aufgrund der hohen Strompreise in Hongkong hatte Harry die norwegische Unsitte, immer und überall das Licht brennen zu lassen, auch wenn man gar nicht zu Hause war, längst aufgegeben. Natürlich konnte auch das Zimmermädchen ganz einfach vergessen haben, die Lampen wieder auszuschalten, aber dann hatte sie auch vergessen, die Tür abzuschließen.
    Harry stand mit dem Schlüssel in der rechten Hand da, als er bemerkte, dass die Tür gar nicht richtig geschlossen war. Er schob sie langsam auf. Eine Gestalt war im Licht der Deckenlampe zu erkennen. Sie drehte ihm den Rücken zu und beugte sich über den geöffneten Lederkoffer, der auf seinem Bett lag. Als die Tür leise an die Wand stieß, drehte die Gestalt sich ruhig um. Es war ein Mann mit einem länglichen, faltigen Gesicht, der Harry aus sanften Bernhardineraugen ansah. Er war groß, hatte eine leicht gebeugte Haltung und trug einen langen Mantel über einem Wollpulli mit einem schmutzigen Pastorenkragen. Aus seinen strähnigen, ungepflegten Haaren ragten auf jeder Seite des Kopfes die größten Ohren heraus, die Harry je gesehen hatte. Der Mann musste mindestens siebzig sein. Obwohl sie sich ganz und gar nicht ähnlich sahen, hatte Harry spontan das Gefühl, in sein eigenes Spiegelbild zu schauen.
    »Was zum Henker tun Sie hier?«, fragte Harry und blieb draußen auf dem Flur stehen. Routine.
    »Wonach ssieht es denn aus?« Die Stimme war jünger als das Gesicht, rau und mit dem ausgeprägten schwedischen Akzent, den norwegische Tanzkombos und Erweckungsprediger aus unerfindlichen Gründen so häufig hatten. »Nun, ich bin hier eingebrochen, um ssu ssehen, ob du vielleicht was Wertvolles hast.« Er hob beide Hände hoch. In der rechten hielt er einen Universaladapter, in der linken eine Taschenbuchausgabe von Philip Roths American Pastoral .
    »Viel ist das wirklich nicht.« Er warf die Sachen aufs Bett. Sah in den kleinen Lederkoffer und blickte Harry fragend an. »Nicht mal ’nen Rassierapparat?«
    »He, verdammt noch mal …« Harry kümmerte sich nicht mehr um all die antrainierten Sicherheitsvorkehrungen, trat in den Raum und warf den Deckel des Koffers zu.
    »Ruhig, mein Ssohn«, sagte der Mann und hob die

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