Die Larve
würde er seinem Gegner so heftige innere Blutungen zufügen, dass dieser nicht wieder aufstehen konnte. Als er aber sah, dass er sein Ziel längst erreicht hatte, ließ er davon ab.
Vom Flur hörte er das Geräusch laufender Schritte und das Klirren von Schlüsseln.
»Hierher!«, rief Harry, stieg über den schreienden Mann und kümmerte sich um Oleg.
Er hörte ein Keuchen in der Tür.
»Bringen Sie den Mann raus und rufen Sie den Notarzt.« Harry musste brüllen, um das andauernde Geschrei des Mannes am Boden zu übertönen.
»Verdammt, was ist hier …«
»Mann, das ist doch jetzt egal, schaffen Sie einen Arzt her.« Harry zog das Slayer-T-Shirt hoch und fuhr mit den Fingern durch das Blut, bis er die Wunde fand. »Und der Arzt soll zuerst zu dem hier kommen, der andere da hat nur ein kaputtes Knie.«
Harry hielt Olegs Gesicht zwischen seinen blutigen Händen, während er hinter sich hörte, wie der schreiende Mann nach draußen gezogen wurde.
»Oleg? Oleg, kannst du mich hören? Oleg?«
Der Junge blinzelte schwach und flüsterte ein Wort, das Harry kaum hörte. Trotzdem zog sich seine Brust zusammen.
»Oleg, alles ist gut. Die Stelle, an der er dich getroffen hat, ist nicht so wichtig.«
»Harry …«
»Und bald ist Weihnachten. Du wirst schon sehen, sie werden dir Morphium geben.«
»Halt deinen Mund, Harry.«
Harry hielt seinen Mund. Als Oleg seine Augen richtig aufschlug, glänzten sie wie im Fieber, sein Blick war voller Verzweiflung. Seine Stimme war heiser, aber deutlich zu verstehen.
»Du hättest ihn seinen Job erledigen lassen sollen, Harry.«
»Was sagst du denn da?«
»Du musst mich das tun lassen.«
»Was tun?«
Keine Antwort.
»Was tun, Oleg?«
Oleg legte seine Hand hinter Harrys Kopf, zog ihn zu sich nach unten und flüsterte: »Du kannst diese Sache nicht aufhalten, Harry. Es ist zu spät, jetzt geht alles seinen Gang. Wenn du dich in den Weg stellst, werden nur noch mehr Menschen sterben.«
»Wer wird sterben?«
»Das ist zu groß, Harry. Das wird dich auffressen, uns alle.«
»Wer wird sterben? Wen schützt du, Oleg? Geht es um Irene?«
Oleg schloss die Augen. Seine Lippen bewegten sich noch eine Weile schwach, dann war alles still. Harry dachte, dass Oleg aussah wie mit elf, wenn er nach einem langen Tag endlich eingeschlafen war. Mit einem Mal sprach Oleg trotzdem wieder.
»Es geht um dich, Harry. Sie werden dich töten.«
Als Harry das Gefängnis verließ, waren die Rettungswagen gekommen. Er dachte daran, wie die Dinge früher gewesen waren. Wie diese Stadt früher gewesen war. Sein Leben. Als er am vergangenen Abend Olegs PC benutzt hatte, hatte er auch nach dem Sardines und dem Russian Amcar Club gesucht, aber nichts hatte darauf hingedeutet, dass sie wieder auferstanden waren. An Auferstehung zu glauben war vielleicht wirklich zu viel des Guten. Mag sein, dass einen das Leben nicht sonderlich viel lehrte, aber an einer Sache ließ es keinen Zweifel: Es gab keinen Weg zurück.
Harry zündete sich eine Zigarette an, doch noch bevor er den ersten Zug nahm, in der Sekunde, in der das Hirn bereits in froher Erwartung des Nikotins war, das mit dem Blut kommen würde, spulte sich das Flüstern noch einmal in seinem Kopf ab. Das Flüstern, von dem er wusste, dass er es den Rest des Abends hören würde, die ganze Nacht. Das simple, kaum hörbare Wort, das in der Zelle als Erstes über Olegs Lippen gekommen war.
»Papa.«
TEIL II
Kapitel 16
D ie Rattenmutter leckte am Metall. Es schmeckte nach Salz. Sie zuckte zusammen, als der Kühlschrank ansprang und sich sein Brummen mit dem Klang der noch immer läutenden Kirchenglocke mischte. Ihr blieb nur ein Weg zurück zum Nest, den sie noch nicht ausprobiert, nicht gewagt hatte, weil der Mensch, der das Loch versperrte, ja noch immer am Leben war. Das hochfrequente Fiepen ihrer Jungen ließ sie aber immer mehr verzweifeln, so dass sie schließlich doch im Ärmel des Menschen verschwand. Es roch salzig und nach Rauch. Aber nicht nach dem Rauch von Zigaretten oder Feuer. Irgendwie nach einem Gas, das in den Kleidern gewesen sein musste und von dem nur noch ein paar wenige Geruchsmoleküle im Gewebe verblieben waren. Sie kam bis zum Ellenbogen, dann wurde es zu eng. Die Ratte hielt inne und lauschte. In der Ferne hörte sie das Heulen einer Polizeisirene.
Es ist die Summe all der Augenblicke, all der Entscheidungen, Papa. All der Sachen, die man für unwichtig gehalten hat. Here today, gone tomorrow , oder so. Aber es
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