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Die Laufmasche

Titel: Die Laufmasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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in schallendes Gelächter aus. So viel makabren Humor hätte ich ihm gar nicht zugetraut.
    »Das ist lustig«, sagte ich anerkennend.
    »Die Moral, die Märchen transportieren, ist zwar oft brutal«, belehrte mich Ralf, der dies keinesfalls als Witz gedacht hatte. »Aber immer gerecht.«
    Ich gackerte noch lauter. Dass Ralf im Ernst meinte, kleine Mädchen dürften nicht mit Schwefelhölzern spielen, ohne am nächsten Tag zur Strafe erfroren vor der Kirche zu liegen, war ja noch viel komischer, als wenn er es nur im Spaß gesagt hätte.
    »Da vorne wohne ich«, japste ich.
    Direkt vor dem Haus war ein Parkplatz frei. Dies kam statistisch gesehen höchstens null Komma zwei Mal im Jahr vor, weshalb ich nicht an einen Zufall glauben konnte. Ich schob es auf den Fluch, mit dem ich behaftet war. Ralf kurvte das Auto mit drei zackigen Zügen in die Lücke.
    »Vielen Dank fürs Bringen«, sagte ich artig und öffnete schnell die Beifahrertür. Nicht schnell genug!
    »Einen Kaffee würde ich schon noch gerne trinken«, ließ sich Ralf vernehmen. Er lächelte, als wäre er der Weihnachtsmann persönlich und habe mir gerade einen Herzenswunsch erfüllt.
    »Ich habe keinen Kaffee da«, sagte ich verzweifelt.
    Was wollte er denn? Ich war zu alt, hatte weder die richtige Körbchengröße noch die richtige Haarfarbe und besaß nicht mal ein Regal für meine CDs. Aber Ralf war ja
    nicht so. Für eine Nacht konnte er diese Mängel schon in Kauf nehmen.
    »Ein Mineralwasser tut's auch«, sagte er lächelnd.
    »Ich trinke nur Leitungswasser«, behauptete ich stur. »Tut mir Leid. Aber an der Ecke ist eine Tankstelle, die hat die ganze Nacht geöffnet. Da kriegst du sicher was zu trinken.«
    Ralf legte die Hand auf meinen Oberschenkel.
    »Na, hör mal«, sagte er väterlich. »Dass du jetzt kneifst, hätte ich aber nicht von dir gedacht. Den ganzen Abend lang hast du versucht, mich anzubaggern, und jetzt hast du plötzlich Schiss vor deiner eigenen Courage.«

Mir klappte der Unterkiefer hinab.
    »Gib dir einen Ruck«, fuhr er fort. »Hinterher ärgerst du dich, denn die Gelegenheit bekommst du so schnell nicht wieder.«
    »Das macht nichts.« Das war doch wohl nicht wahr! Warum fiel mir wieder mal keine passende Antwort ein? Kopfschüttelnd stieg ich aus dem Wagen. Ralf stieg an der anderen Seite aus. Im Licht der Straßenlaterne sah er mehr denn je aus, als spiele er Posaune in einer Big- Band.
    »Dass Frauen immer nein sagen müssen, wenn sie ja meinen«, tönte er nachsichtig.
    Ich sah mich gezwungen, einen deutlichen Satz zu sprechen.
    »Ralf«, sagte ich und sah ihm fest in das Blechbläsergesicht. »Ich hab' auch so meine Maßstäbe. Du fährst leider kein Cabrio, Hückeswagen fehlt das Weltstadtflair, volles Haar wäre Grundvoraussetzung, allerdings egal in welcher Farbe. Du verstehst hoffentlich, dass ich nur echte Sportler in'mein kostbares Louis-Seize-Himmel- bett lasse und kleine Golfclubanwärter.«
    Natürlich verstand er das nicht. Er setzte sich zwar mit beleidigter Miene hinters Steuer und gab Gas, aber ich wusste, dass es keine fünf Minuten dauern würde, bis er fest davon überzeugt war, dass er wieder mal eine Tussi hatte abblitzen lassen. Ich meine, man gibt sich schließlich nicht mit jeder ab, du.
    Als ich mich in meiner Wohnung aufs Bett warf, fielen mir dann auch prompt all die anderen Dinge ein, die ich Ralf noch hätte sagen sollen. Aber in einem hatte Ralf recht: Die Gelegenheit würde ich niemals wieder bekommen!

Die neunte Gelegenheit
    MONTAG MORGEN LIEF ich als erstes zu Wolf ins Büro und sagte ihm, dass ich bereit sei, den Vertrag zu unterschreiben. Wolf schien erfreut.
    »Aber einen Vertrag gibt es bei uns nicht«, sagte er. »Hier vertraut jeder jedem. Wie in einer großen Familie. Bei uns kann auch aus dir noch was werden.« Er reichte mir seine schlaffe Hand über den Schreibtisch.
    Mir war ein wenig flau im Magen, als ich danach griff. Eine Möglichkeit, den Job doch nicht zu bekommen, gab es allerdings noch.
    »Das war jetzt alles so kurzfristig«, sagte ich,
    »dass ich meinen Urlaub schon eingeplant hatte.
    Über Weihnachten fahren wir mit der ganzen Familie in die Schweiz. Da würde ich natürlich ungern drauf verzichten.«
    »In drei Wochen schon? Ja, das ist natürlich nicht Usus bei uns, schon während der Probezeit Urlaub zu nehmen.«
    »Also, wenn es nicht anders geht, könnte ich auch erst im Januar anfangen. Oder im Februar.«
    Wolf machte eine generöse Handbewegung. »Ach, was«,

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