Die Launen des Teufels
drängte sie sich an den Krämern, Metzgern und Bäckern vorbei, die ebenfalls früh auf den Beinen waren, und drückte sich in Eingänge und an Mauern, wenn eines der gefährlichen Fuhrwerke mit knarrenden Rädern an ihr vorbeiholperte und die gelben Blätterhaufen aufwirbelte. Da die Feuerstellen vieler Stadtbewohner bereits seit mehreren Stunden in Betrieb waren, stank die Luft nach verbranntem Holz, geräuchertem Fisch und den allgegenwärtigen Fäkalien, deren Menge in den Herbst- und Wintermonaten zuzunehmen schien. Neidisch ließ das Mädchen den Blick an einer mit hellblauem Fachwerk geschmückten Fassade entlang wandern, hinter deren Fenstern noch tiefe Dunkelheit herrschte. Die reichen Tuch- und Gewürzhändler hatten es nicht nötig, vor Tagesanbruch aufzustehen, wie es ihre ärmeren Mitbürger taten, da die groben Arbeiten in ihren Häusern vom Gesinde verrichtet wurden. Ein mit einer turbanartigen Kopfbedeckung halb verhüllter Kopf schob sich in ihr Blickfeld, als eine zahnlose alte Muhme die Fensterläden im Erdgeschoss einer Schlosserwerkstatt öffnete und einen Eimer schmutzigen Wassers vor Anabels Füße schüttete. Wie rücksichtsvoll!, dachte diese mit einem säuerlichen Blick und wischte ein Stückchen schlaffen Grüns von ihrem Ärmel, das aus einem der oberen Stockwerke auf sie niedergesegelt war.
Nicht einmal der Glockenturm der Abteikirche oder der Luginsland der westlich des Rathauses gelegenen ehemaligen Königspfalz waren an diesem Tag zu sehen. Doch wenn Anabels Gefühl sie nicht trog, würde der Nebel gegen die Mittagszeit dem Sonnenschein weichen, der sie stets die Trostlosigkeit des Morgens vergessen ließ. Während sie mit fest auf das schlüpfrige Kopfsteinpflaster gerichtetem Blick in Richtung Franziskanerabtei eilte, drängten sich die Bilder des vergangenen Abends in ihr Bewusstsein. Nach dem Mahl, an dem auch die beiden Gesellen teilgenommen hatten, war sie durch Zufall an dem kleinen Durchgang zum Hof vorbeigekommen, in dem sich der neue Lehrling wie ein hungriges Tier über die jämmerlichen Brot- und Käsekanten hergemacht hatte, die vom Tisch abgefallen waren. Zuerst hatte sie weiterhasten wollen, um den Befehl ihres Vaters zu befolgen. Doch als der Junge den im Mondlicht beinahe bläulich schimmernden Schopf aus der Stirn geschoben hatte, war ihr vor Bewunderung der Atem gestockt und sie hatte das geforderte Essigfässchen schlicht und einfach vergessen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Männern, die sie kannte, war der Körper des neuen Lehrlings schlank und geschmeidig, und die glatten Wangen wirkten wie aus Elfenbein gearbeitet. Das schwarze Haar, das ihm immer wieder in verschwitzten Strähnen in die Stirn fiel, verlieh seiner Haut ein beinahe durchsichtiges Aussehen, das durch die ebenfalls pechschwarzen Augen noch unterstrichen wurde. Wie anders als die behaarten, grobschlächtigen Kerle, die im Haus ihres Vaters ein und aus gingen, er war!
Die zornige Stimme ihres Vaters hatte sie aus der heimlichen Betrachtung gerissen, als dieser gebrüllt hatte: »Wo bleibt der Essig? Soll ich dir Beine machen?« Und dann hatte der Vorfall mit Uli alle Gedanken an den jungen Lehrling verdrängt. Beim Griff nach der Butter hatte der Sechsjährige unabsichtlich das kleine Salzgefäß zu Boden gewischt, dessen Inhalt sich wie ein körniger See über den Lehmboden ergossen hatte. Hochrot vor Wut hatte Conrad den Knaben beim Kragen seines Rockes gepackt, den Gürtel gelöst und so lange auf ihn eingeprügelt, bis dieser blutend und heulend zu Boden gegangen war. »Es reicht«, hatte Anabel schließlich allen Mut zusammengenommen und sich zwischen Conrad und ihren kleinen Bruder gestellt. Und nachdem es kurz so ausgesehen hatte, als wolle ihr Vater die begonnene Züchtigung an ihr vollenden, hatte er sich mit einem verächtlichen Schnauben auf die Holzbank zurückfallen lassen und geknurrt: »Du hast Glück, dass jemand an deinem Lärvchen Gefallen hat.« Zwar hatte sie sich gefragt, was er damit wohl gemeint haben könnte, doch war es ihr in diesem Moment wichtiger erschienen, den kleinen Uli zu trösten, der sich weinend in die Schlafkammer geflüchtet hatte.
Mit einer unbewussten Handbewegung vertrieb sie die Erinnerung an den Donnerstagabend und bog in die breite Straße ein, die zu der Franziskanerabtei führte.
Dutzende von Wagen und Karren beladen mit Getreidesäcken, Körben voller Weintrauben und Fässern voller eingelegten Fischs und gepökelten Fleisches standen bereits
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