Die Launen des Todes
andere undurchschaubar blieben.
Damit fertig, sagte man ihr, sie könne um sechzehn Uhr dreißig erneut vor dem Pfauenthron erscheinen; bis dahin solle Chakravarty, vorausgesetzt, sein enger Terminplan lasse dies zu, eine vorläufige Beurteilung der Untersuchungsergebnisse vornehmen können.
Sie verspürte keinerlei Bedürfnis, in ihre Wohnung zurückzukehren. Hat war im Dienst, was allerdings nicht bedeutete, dass er sie nicht zwischendurch in der Bibliothek besuchen könnte. Falls dem so war, würde er die Geschichte zu hören bekommen, die sie ihren Kollegen eingetrichtert hatte – dass sie sich einen Tag freinahm, um zum Schlussverkauf nach Leeds zu fahren. Als Polizist, der wusste, dass sie vom Shoppen nicht viel hielt, würde er etwas skeptischer reagieren als ihre Kollegen und sofort vor dem Church View aufkreuzen. Um ihn davon abzuhalten, irgendwelche Dummheiten zu begehen, wie zum Beispiel ihre Tür einzutreten, hatte sie Myra Rogers ins Vertrauen gezogen. Sie hatte versprochen, auf Besucher zu lauschen und ihnen zu bestätigen, dass sie ihre Freundin in aller morgendliche Frühe hatte losfahren sehen, voll der Hoffnung auf ein schönes Schnäppchen. Besorgt, dass Myra dadurch in ihrer Wohnung festgehalten werden würde, hatte ihr diese versichert, dass sie ihre buchhalterischen Tätigkeiten größtenteils genauso gut zu Hause erledigen konnte statt in den häufig beengten Büros ihrer Kunden.
Es schien ihr keine schlechte Idee zu sein, zufällige Begegnungen im Stadtzentrum zu vermeiden, weshalb sie aufs Land hinausfuhr. Ob aus Zufall oder unbewusst gewählt, jedenfalls erkannte sie plötzlich, dass sie auf der Straße nach Little Bruton unterwegs war, und dort vorne stand die kleine buckelige Brücke, wo sie mit ihrem Auto liegen geblieben war und verzweifelt ausgeharrt hatte, bis sie den gelben AA -Wagen sah, der auf sie zukam wie die Antwort auf ein Gebet. Hier hatte alles angefangen, hier war das erste ihrer Opfer gestorben – nein, kein Opfer, dieser nicht … sein Tod war ein Unfall gewesen … ein Unfall, den sie als Zeichen gedeutet hatte …
Sie hielt auf der Brücke an. Für sie war damals die Zeit stehen geblieben, genau wie bei allen nachfolgenden Ereignissen, an denen der Tod zugeschlagen hatte, der dann auch bei äußerster Beanspruchung der Vorstellungskraft nicht mehr als zufälliger Unfall bezeichnet werden konnte. Sie hatte Chakravarty von diesen zeitlosen Abschnitten erzählt, ohne natürlich in die Einzelheiten zu gehen, doch bemüht, ihm das Gefühl ihres Heraustretens aus der Chronologie des Alltagslebens, ihr Gefühl des Andersseins zu verdeutlichen. Nun sehnte sie sich erneut nach dieser Erfahrung … der sich verlangsamenden Zeit … ihres Stehenbleibens … nur dass dieses Mal, wenn der Fluss der Zeit sich wieder in Bewegung setzte, der AA -Mann vielleicht nicht mehr tot im Wasser liegen, sondern sich in seinen Wagen setzen und fröhlich davonfahren sollte …
Doch nichts geschah. Sie stand auf der Brücke und blickte über die niedrige Brüstung hinab. Der Fluss strömte dahin, genau wie die Zeit. Sie stieg in ihren Wagen. Die Vergangenheit war vergangen und änderte sich nie. Die Toten waren tot, und wollte man sie wiedersehen, blieb einem nichts anderes übrig, als sich zu ihnen zu gesellen. Tränen traten ihr in die Augen und raubten ihr die Sicht. Sie fuhr weiter, immer schneller, doch als sich ihr Blick wieder aufklarte, war sie noch immer am Leben, holperte über diese schmale kurvenreiche Landstraße, als würden fremde Hände das Lenkrad führen.
Um sechzehn Uhr neunundzwanzig war sie wieder in Chakravartys Büro. Pünktlich um sechzehn Uhr dreißig erschien er. Es war ihm also eine Lehre gewesen. Doch als er keine charmante, witzige Bemerkung über seine zeitliche Akkuratesse zum Besten gab, vermutete sie, dass er ihr keine freudigen Botschaften überbrachte.
»Mr. Chakravarty«, sagte sie, »bevor Sie beginnen, möchte ich Ihnen sagen, es gibt keinen Grund, dass Sie Ihre Worte hübsch verpacken. Ich möchte klare Erläuterungen. Keinen Jargon, keine technischen Verbrämungen und ganz gewiss keine Euphemismen.«
Ein Zwinkern.
»Gut«, sagte er. »Dann muss ich Ihnen leider mitteilen, dass Sie einen Gehirntumor haben. Er ist die Ursache für Ihre gegenwärtigen Kopfschmerzen und den konvulsivischen Anfall, den Sie an Neujahr erlitten haben.«
Er redete weiter, geschliffen, eloquent. Sie begriff, worauf er hinauswollte – dass er ihre sofortige
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