Die Launen des Todes
die Situation einschätzen.«
Er war ein guter Zuhörer und ein guter Fragesteller, nach einer halben Stunde aber registrierte Rye leicht verwirrt, dass er sich weniger für das ihrer Meinung nach bedeutsamste Ereignis ihrer medizinischen Vorgeschichte interessierte – den Unfall, bei dem ihr Bruder ums Leben gekommen und von dem ihr die silberfarbene Strähne zurückgeblieben war. Vielmehr richtete er sein Augenmerk auf die Ereignisse draußen am Stang Tarn, bei dem Dick Dee im vergangenen Herbst den Tod gefunden hatte.
»Ich weiß, trotzdem muss es für Sie ein ungeheurer Schock gewesen sein. Und Ihre Symptome haben sich seit dieser Zeit anscheinend verschlechtert.«
»Sind Sie da nicht ein wenig voreilig?«, sagte Rye. »Sie tun ja gerade so, als würde alles, wonach Sie mich fragen oder was ich erwähne, zu einem einzigen Syndrom gehören. Bevor Sie nicht die Ergebnisse der notwendigen Untersuchungen vorliegen haben, bleibt das alles doch nur Hypothese?«
»Ich ziehe es vor, es als Diagnose zu betrachten«, sagte er mit seinem aufblitzenden charmanten Lächeln. »Sie haben mir von Ihren schweren Kopfschmerzen erzählt, unter denen Sie seit Jahren zu leiden haben und deren Frequenz zugenommen hat, daneben von gelegentlichen Schwindelanfällen und Orientierungslosigkeit, die ebenfalls immer häufiger auftreten, sowie von Stimmungsumschwüngen, die so heftig sind, dass man sie als manisch-depressiv bezeichnen könnte – jedenfalls sind sie wohl so stark, dass Sie sie für erwähnenswert erachten. Damit ist ein Muster beschrieben, das mir anzeigt, worauf ich bei den Untersuchungen zu achten habe.«
»Warum fangen wir dann nicht damit an?«
Wieder zwinkerte er. Wahrscheinlich bedeutete jedes Zwinkern einen weiteren Hunderter auf seiner Rechnung, kam es Rye in den Sinn. Nun gut, genau dafür zahlten Privatpatienten eben, sie durften sich das Recht herausnehmen, ungehobelter zu sein als der Arzt.
Sie bemühte sich, seine Fragen so ehrlich wie möglich zu beantworten, ohne ihm natürlich von ihren Gesprächen mit Serge zu erzählen und ohne ihm auch nur den Hauch einer Andeutung zu geben, dass sie in die Wordman-Morde verstrickt war. Sie erzählte ihm, dass sie sich für den Unfall verantwortlich fühlte, bei dem Serge ums Leben gekommen war, gab freilich nicht zu, dass in Wahrheit sie tatsächlich die Schuld daran trug. Sie führte aus, dass nach ihrer Genesung die Schauspieltexte, die sie bis dato auswendig konnte, wie ausgelöscht waren, sobald sie den Fuß auf die Bühne setzte. Ihre Hoffnungen auf eine Schauspielkarriere waren damit zunichte gemacht. Im Vorfeld hatte sie befürchtet, sie könnte versucht sein, die Beichte bis zum bitteren Ende durchzuziehen, alles könnte aus ihr nur so heraussprudeln, wenn sie einem unbeteiligten Experten so vieles von sich preisgab. Nun aber stellte sie fest, dass dadurch eine Distanz geschaffen wurde zwischen ihr und jenem Selbst, das diese schrecklichen Taten begangen hatte. Wodurch dieses andere Selbst zu einem Mörder wurde ähnlich denen, über die man in der Zeitung las oder die man im Fernsehen sah, wenn sie in den Gerichtssaal geführt wurden – und dann schlug man die Zeitung zu oder schaltete den Fernseher aus, und mochte dann auch noch eine Weile lang ein residualer Eindruck haften bleiben, so war dieser jedoch nicht so stark, dass einem deswegen das Essen nicht mehr schmeckte oder man Schlafprobleme hatte.
Nur die sargähnliche Röhre des Computertomographen rief ihr alles wieder in Erinnerung, auch Sergius, seinen sich auflösenden Körper, als er versuchte, sich von der Asche und den Staubflusen zu befreien, seinen anklagenden Blick, als wären durch ihre Bemühungen, zu ihm durchzudringen, nur Fegefeuerkohlen auf seine Seele geschichtet worden. Als sie wieder in die verglichen damit kathedralenhafte Weite des Krankenhausraums geschoben wurde, fragte sie sich, ob der Scanner ihre turbulenten mentalen Aktivitäten registriert hatte. Würde es dem Blick des Experten möglich sein, aus der Botschaft, die von den elektrischen Impulsen an die Gehirnwand gekritzelt wurde, ein volles Geständnis abzulesen?
Nach der ersten Konsultation und Untersuchung war Mr. Chakravarty verschwunden, möglicherweise behandelte er einen weiteren lukrativen Privatpatienten, vielleicht warf er auch einen schnellen Blick auf ein Dutzend gewöhnlicher Patienten, während sie den gesamten Morgen mit weiteren Untersuchungen verbrachte, von denen ihr manche verständlich waren,
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