Die Launen des Todes
sie zum Kulturzentrum. Die meisten ihrer Kollegen würden sich bereits auf dem Nachhauseweg befinden; wie auch immer, sie hatte ja den Tag mit Shoppen verbracht.
Sie begab sich ins Theater des Kulturzentrums. Dessen Direktor gehörte zu den Opfern des Wordmans. Nein, er war einer meiner Opfer, korrigierte sie sich. Sie wusste nicht, ob sie es über sich bringen konnte, ihre Sünden zu beichten, aber wenigstens konnte sie sich ihnen stellen. Eines der wichtigsten Mitglieder des Ensembles, eine junge Frau namens Lynn Crediton, war zur vorübergehenden Direktorin ernannt worden, und wenn die während die Feiertage auf dem Spielplan stehende Produktion von
Aladdin
beim Publikum einigermaßen ankam, konnte der Stadtrat weiß Gott schlechtere Entscheidungen treffen, als ihr die Direktorenstelle permanent zu übertragen.
Im kleinen Theater herrschte, gut eine Stunde vor der Abendvorstellung, das übliche geschäftige Treiben. Rye entdeckte Lynn im Gang, wo sie einige Scheinwerfer inspizierte. Rye wartete, bis sie ihre lautstarken Instruktionen an den Mann gebracht hatte, bevor sie sich ihr näherte.
Sie hatten sich einige Male zuvor gesehen, Treffen, die von Ryes Verwicklung im Wordman-Fall bestimmt waren.
»Hallo«, sagte Lynn. »Na, ein wenig früh, wenn du zusehen willst, oder hast du Lust, die Hinterbeine eines Kamels zu spielen?«
»Beides, möglicherweise«, sagte Rye. »Hör zu, klingt vielleicht etwas dämlich, aber ich habe früher selbst ein wenig auf der Bühne gestanden und wollte fragen, ob ich mich nicht an einigen Versen versuchen kann.«
»Du willst vorsprechen?« Die Frau betrachtete sie zweifelnd. »Klar, warum nicht? Kannst du, sagen wir, morgen Vormittag wiederkommen, so um zehn?«
»Na ja, eigentlich wollte ich fragen, ob ich nicht gleich auf die Bühne kann? Nur eine halbe Minute, nicht länger. Ich weiß, du hast viel zu tun, aber ich hab das Gefühl, dass es jetzt sein muss. Keiner soll deswegen seine Arbeit unterbrechen, ich verzieh mich auch gleich wieder.«
Lynn zuckte mit den Schultern.
»Okay, nur zu. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich dir zuhöre, noch nicht mal für eine halbe Minute!«
Dankbar lächelte Rye und trat auf die niedrige Bühne.
Dort stand sie eine Weile und sah in die Ränge. Dann kehrte sie wieder, jene Zeit davor … vor Serges Tod, so war es gewesen, im Scheinwerferlicht, wenn man in die Dunkelheit hinausblickte.
Nun war sie wieder hier.
Stand im Licht, blickte hinaus in die Dunkelheit.
Sie räusperte sich, öffnete den Mund, ohne die geringste Vorstellung, was ihr, wenn überhaupt, über die Lippen kommen würde.
Dann hörte sie sich selbst singen:
Komm herbei, komm herbei, Tod!
Und versenk in Cypressen den Leib.
Lass mich frei, lass mich frei, Not!
Mich erschlägt ein holdseliges Weib.
Mit Rosmarin mein Leichenhemd,
O bestellt es!
Ob Lieb’ ans Herz mir tödlich kommt,
Treu’ hält es.
Als sie mit dem Lied begann, war das Theater erfüllt von Lärm, sodass ihre leise Stimme klang wie Lerchengesang auf einem Viehmarkt. Als sie geendet hatte, waren alle Geräusche verstummt, alle Augen waren auf die schlanke junge Frau gerichtet, die stocksteif vorn auf der Bühne stand.
Keine Blum’, keine Blum’ süß
Sei gestreut auf den schwärzlichen Sarg,
Keine Seel’, keine Seel’ grüß
Mein Gebein, wo die Erd’ es verbarg.
Und Ach und Weh zu wenden ab,
Bergt alleine
Mich, wo kein Treuer wall’ ans Grab,
Und weine.
Sie war fertig. Schweigen.
Dann begann Lynn Crediton zu applaudieren, bald darauf fielen alle anderen mit ein. Errötend stieg Rye von der Bühne.
»Das war toll«, sagte Lynn. »In der Stimmung vielleicht nicht unbedingt für
Aladdin
geeignet, für die Zeit aber ganz passend.«
»Ach, wegen der Zwölften Nacht, meinst du. Weiß nicht, warum ich das ausgesucht habe. Wir haben
Was ihr wollt
an der Schule aufgeführt.«
»Und du hast den Feste gespielt?«
»Nein. Mir gefiel das Stück so sehr, dass ich es von der ersten bis zur letzten Zeile auswendig konnte. Ich habe Viola gespielt, die ihren verlorenen Bruder findet. Vielleicht hätte ich Olivia spielen sollen, die wusste, wie ihr Bruder zu betrauern ist.«
»Dafür ist noch viel Zeit. Wie ich schon sagte, kannst du morgen vorbeikommen … alles in Ordnung?«
Besorgt sah sie Rye in die Augen, in denen Tränen standen.
»Doch, doch, es ging mir nie besser … glücklich und traurig zugleich … tut mir Leid, ich muss jetzt los.«
Sie eilte zum Ausgang. »Du
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