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Die Launen des Todes

Die Launen des Todes

Titel: Die Launen des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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auf.
    Während der eisige Wasserstrahl sich langsam erwärmte, spürte sie, wie ihre Lebensgeister zurückkehrten. Sie trällerte ein Lied, nicht die Worte, nur die einfache eingängige Melodie. Das erstaunte sie, hatte sie seit kurzem doch festgestellt, dass sie sich an alles erinnern konnte, sogar an Dinge aus ihren allerersten Lebensjahren.
    Dann kam ihr, dass sie sich an den Text ja gar nicht erinnern konnte, weil sie ihn niemals gekannt hatte. Auch die Melodie hatte sie nur einmal gehört. Sie war von einem Jungen mit einer Bouzouki in der Taverna gesungen worden, dem griechischen Restaurant in der Cradle Street. Von allen Liedern, die er an jenem Abend vorzutragen gebeten wurde, war dies das einzige gewesen, das authentisch, griechisch geklungen hatte. Den Text hatte sie nicht verstanden, die Melodie aber beschwor in ihrer Intensität das Bild eines blauen Himmels herauf, des blauen Meeres und eines jungen Schäfers, der auf einem von der Sonne verdorrten Hügel unter einem Olivenbaum saß.
    Sie zog sich an, räumte alles auf, ließ alles so, wie sie es gern wieder vorfinden würde, und schloss sorgfältig die Tür hinter sich.
    Mrs. Gilpin kam mit der Morgenmilch die Treppe herauf.
    »Na, geht’s zur Arbeit«, sagte sie.
    »Nein, ich arbeite heute nicht«, sagte Rye mit einem Lächeln. »Ich hab den netten Blumenkasten an Ihrem Fenster bewundert. Solche Farben, mitten im Winter, beeindruckend, und deswegen habe ich mir überlegt, fahr doch mal zu dem großen Gartencenter in Carker hinaus, mal sehen, ob ich nicht auch so was Schönes finde.«
    Mrs. Gilpin, nicht gewohnt, dass ihre Nachbarin mit ihr mehr als nur eine kurze Begrüßung austauschte, errötete bei dem Kompliment. »Wenn ich Ihnen helfen soll, dann sagen Sie es nur.«
    »Danke, aber das ist nicht nötig«, erwiderte Rye.
    Sie rannte die Treppe hinab, glücklich, da sie wusste, dass sich jedes Wort des kurzen Gesprächs in Mrs. Gilpins Gedächtnis eingeprägt hatte, und auch ein wenig traurig, da sie es bislang niemals über sich gebracht hatte, der Frau ein freundliches Wort zu schenken.
    Sie hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, wohin sie wollte, bis sie ihre Nachbarin getroffen hatte; nun wusste sie es. Und sie wusste auch, warum, was sie aber für sich erst formulieren konnte, als sie die Stadtgrenze hinter sich ließ und der Wagen ruhig den sanften Hügel hinaufkletterte, der zum Anfang der Römerstraße führte. Oben hielt sie am Straßenrand an und wartete.
    Unter ihr erstreckte sich die alte Römerstraße, die knapp acht Kilometer entlang einer alten Buchenallee pfeilgerade auf das Dorf Carker zuführte. Dort unten hatte sie auf den Jungen mit der Bouzouki gewartet, hatte gesehen, wie das Scheinwerferlicht seines Motorrads auf sie zugerast kam, dann hatte sie ihre eigenen Scheinwerfer aufgeblendet und war ihm entgegengefahren.
    Von all ihren Opfern bedauerte sie ihn wohl am meisten. Er war jung gewesen, unschuldig, hatte nichts Böses im Herzen und Musik in den Fingerspitzen gehabt. Sie hatte ihn nicht getötet, aber seinen Tod verursacht, was sie in ihrem Wahnsinn als Lizenz zum Töten angesehen hatte.
    Wenn sie jemanden zum Leben erwecken könnte …
    Bei diesem Gedanken fühlte sie sich Sergius gegenüber illoyal, ihrem Bruder, den sie ebenfalls durch einen Autounfall getötet hatte, nicht absichtlich, einfach nur aus Egoismus und Nachlässigkeit.
    Aber er würde es verstehen.
    Sie wartete, bis die Straße vor ihr leer war. Im Rückspiegel sah sie in der Ferne einen Wagen. Konnte es wirklich sein …? Ja!
    Ein gelber AA -Wagen.
    Einen passenderen Zeugen konnte sie nicht verlangen!
    Aber Zeuge wofür? Hier war ein Problem. Wie konnte man auf einem vollkommen geraden und verkehrsfreien Straßenabschnitt einen Unfall verursachen?
    Aber irgendwie empfand sie es nicht als Problem.
    Sie setzte sich auf der Römerstraße in Bewegung, den Fuß hart auf das Gaspedal gepresst.
    Mit zunehmender Geschwindigkeit spürte sie, wie die Zeit sich verlangsamte, sodass die Buchen, die vor ihr eigentlich verschwimmen müssten, gemessenen Schrittes wie in einer Prozession an ihr vorbeizogen. Dies gehörte zur Aura, die ihren schrecklichen Taten immer vorausging, der gleichen Aura, die im klinischen Sinn oft Epilepsie- oder andere Anfälle einleitete. In ihrer jetzigen Situation konnte es beides sein, der Tumor, der sich an seine zerstörerische Aufgabe gemacht hatte, oder der Vorbote ihres finales Mordes. Im Großen und Ganzen würde sie es vorziehen,

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