Die Launen des Todes
Grunzen und schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein. Lees Miene, die sich bei Wields Ankunft vor Freude oder Erleichterung aufgehellt hatte, war wieder so argwöhnisch und wachsam wie immer, als der Sergeant sich setzte.
»Wie geht’s?«, fragte Wield.
»Gut. Du hast dein Sandwich überlebt?«
»Sieht so aus.«
Schweigen. Manchmal ließ Wield unter solchen Umständen das Schweigen und seine undurchdringlich-drohende Miene für sich arbeiten. Heute jedoch würde ein wenig Smalltalk nötig sein, wenn hier etwas erreicht werden sollte. Vielleicht wollte er aber auch einfach nur plaudern.
»Lubanski«, sagte er. »Woher kommt der Name?«
»Das ist der Name meiner Mutter. Sie war Polin.«
»War?«
»Sie ist gestorben. Als ich sechs war.«
»Das tut mir Leid.«
»Ja? Warum?« Sein Ton war skeptisch-aggressiv.
»Weil«, sagte Wield mit sanfter Stimme, »es in keinem Alter besonders toll ist, wenn man seine Mutter verliert, aber mit sechs ist es noch schlimmer als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt. Da ist man schon alt genug, um zu wissen, was es bedeutet, aber noch zu jung, um damit zurechtzukommen. Was ist dann geschehen?«
Eigentlich war die Frage unnötig. Wie Pascoe, der Franny Roote verfolgte, hatte auch er an jenem Morgen einige Recherchen angestellt. Lee Lubanski hatte einige Eintragungen im Jugendstrafregister, nichts Schlimmes: Ladendiebstahl, Klebstoffschnüffeln, Flucht aus einem Jugendheim. Nichts über Stricheraktivitäten. Er hatte Glück gehabt, war clever gewesen oder beschützt worden. Ein gewissenhafter Sozialarbeiter hatte eine kurze Familiengeschichte zusammengestellt, als der Junge zum ersten Mal ins Heim kam. Der Großvater war polnischer Werftarbeiter, der sich in der Solidarnosć-Bewegung engagiert hatte. 1981 ging General Jaruzelski dann gegen Walesa und seine Anhänger vor. Lubanski, ein Witwer mit schwachen Lungen und einer fünfzehnjährigen Tochter, fürchtete, einen Gefängnisaufenthalt nicht überstehen zu können, darüber hinaus machte er sich Sorgen um seine Tochter, wenn sie auf sich allein gestellt wäre. Irgendwie gelang es ihm, auf einem Schiff außer Landes zu kommen, das in Hull anlegte. Da er keinen Grund sah, warum sich die britischen Behörden von jenen in seiner Heimat grundlegend unterscheiden sollten, schlüpfte er durch das Immigrationsnetz und tauchte in den trüben Gewässern der Großstädte in Yorkshire unter, wo ihn genau das erwartete, wovor er aus Polen geflohen war. Nach nur wenigen Monaten fragwürdiger Existenz in Großbritannien starb er an unbehandelter Tbc und ließ eine schwangere Tochter zurück, die lediglich der Grundzüge des Englischen mächtig war und ihren Lebenserwerb mit nichts anderem als der Prostitution bestreiten konnte, ihrem Beruf, als Lee in diese unfreundliche Welt geschlittert kam.
Die junge Mutter tauchte lange genug aus ihrer Illegalität auf, um ihren Sohn offiziell anzumelden und für sich vom sorgenden Staat ein Minimum an Sozialhilfe zu sichern, dann überkam sie erneut die Angst ihres Vaters vor den Behörden. Wieder verschwand sie, bis Lee das Schulalter erreichte. Nun bekam das Gesetz sie zu fassen, doch als ihr von den Behörden der Status einer illegalen Einwanderin zugebilligt wurde, war die Krankheit ihres Vaters bei ihr bereits so weit fortgeschritten, dass es nur noch darum ging, wer die Kosten für ihren Sarg zu übernehmen hatte.
Wie zu erwarten war auch ihr Sohn tuberkulosekrank, glücklicherweise befand sich die Krankheit noch in einem frühen Stadium, sodass er erfolgreich behandelt werden konnte. Der Bericht des Sozialarbeiters ging davon aus, dass Lee das Produkt einer ungeschützten Begegnung mit einem Kunden war, doch nur darin wich Lees fragmentarische Erzählung von dem ab, was Wield gelesen hatte.
»Meine Mam wollte heiraten, aber sie konnte nicht, weil sie erst fünfzehn war, sie musste bis sechzehn warten, und irgendwas muss dann mit meinem Dad passiert sein …«
Hatte irgendein Dreckskerl das Mädchen angelogen, damit er sie umsonst ins Bett bekam? Oder hatte sie ihren Sohn angelogen, damit er nicht mit dem Wissen aufwachsen musste, er sei das Ergebnis einer Fünf-Pfund-Nummer an irgendeiner Hauswand?
Wie auch immer, dem Jungen war es sichtlich wichtig. Dem jungen Mann. Dem neunzehnjährigen männlichen Prostituierten, der ihn mit dem Versprechen hierher bestellt hatte, im Besitz nützlicher Informationen zu sein.
Wield richtete sich auf und sah auf seine Uhr, um der trauten Zweisamkeit ein Ende zu
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