Die Laute (German Edition)
Ballspielen ist der Raum zu klein, und bisher hat er seine Freunde noch nie Kartenspielen gesehen. Wie soll man auch miteinander reden, wenn man Spielkarten in den Händen halten muss?
Asis weiß seit Langem, dass Hafis aus einem ungewöhnlichen Dorf in Abjan stammt. Es heißt Am Hadidah und liegt einsam im Wadi Dschauda, am Fuß des Dschabal Dscha’ar. Von den sechshundert Bewohnern sind vierzig taub. Das sind ungewöhnlich viele Menschen. Nun bietet sich eine gute Gelegenheit, mehr darüber zu erfahren.
»Das war schon immer so«, gebärdet Hafis, »aber niemals ein Problem. Alle Bewohner beherrschen die Gebärdensprache, auch die Hörenden. Sie ist natürlich anders als jene, die wir in der Schule lernen. Sie ist wie ein lokaler Dialekt. Ich spreche inzwischen drei, und wenn ich unser Anfängerenglisch dazu rechne, sogar vier Gebärdensprachen: die meines Dorfes Am Hadidah, die Hochgebärdensprache an der Schule und unser Adener Umgangsgebärdisch.«
Seine Zuhörer lächeln. Für Asis ist es eine neue Gebärde, ›Umgangsgebärdisch‹, aber er versteht sie auf Anhieb.
»In meinem Dorf weiß man nie so richtig, wer taubstumm ist«, fährt Hafis fort. »Alle sprechen die Gebärdensprache. Taub zu sein ist so normal, dass niemand besondere Notiz davon nimmt. Den Tauben steht es frei, Hörende oder Gehörlose zu heiraten und jeden beliebigen Beruf zu ergreifen, vielleicht mit Ausnahme des Muezzins. Taube gibt es in jeder Familie. Deswegen stand auch schon mehrfach ein gehörloser Scheich an der Spitze der Dorfgemeinschaft. Und bevor unser Dorf mit dem Rest der Welt verbunden wurde, fanden auch die Gebete und Predigten in der Moschee in Gebärdensprache statt. Nun gibt es aber Streit darüber, ob es für Hörende erlaubt ist, die Gebete in der Gebärdensprache zu verrichten.«
»Wieso hat sich das geändert?«, fragt Asis.
»Für die Dorfbewohner war das alles ganz normal, bis die Straße nach Muqajbirah am Golf gebaut und das erste Strom- und Telefonkabel gelegt wurde. Plötzlich kamen Lehrer und Prediger aus anderen Orten in unser Dorf, die natürlich keine Gebärdensprache konnten und nicht einsahen, warum sie als Hörende sie lernen sollten.«
Hafis Hände ruhen für einen Augenblick.
»Niemand weiß, warum es so viele Gehörlose in Am Hadidah gibt. Natürlich hat es mit den Familien und den Heiraten zu tun. Doch kommt es eben vor, dass zwei hörende Eltern fünf taube und drei hörende Kinder haben oder zwei taube Eltern nur hörende Kinder bekommen. Es ist allein Allahs Wille. Und da es in allen Familien vorkommen kann, wird es als ganz normal angesehen. Nur für Außenstehende wirkt es merkwürdig.
Aber wir sind in Am Hadidah ja wirklich ganz normal, weil jeder jeden versteht. Niemand benimmt sich einem Tauben gegenüber besonders rücksichtsvoll. Das wollen wir Gehörlosen auch gar nicht. Wenn ihr mich fragt, wer in meinem Dorf taub ist, muss ich wirklich lange nachdenken. Bei manchen weiß ich es gar nicht. Es spielt einfach keine Rolle!
Ich war erst überrascht, als ich mein Dorf verließ und feststellen musste, dass es an anderen Orten nicht genauso ist. Ich hatte gedacht, dass es überall Taube gibt und alle mehrere Sprachen sprechen, darunter eben auch die Gebärdensprache.«
»Warum hast du denn dein Dorf überhaupt verlassen?«
»Es gibt dort keine weiterführende Schule. Außer Viehhirte und Qatbauer kannst du dort nicht viel werden. Aber hier in Aden habe ich ja wieder eine Gemeinschaft von Gehörlosen gefunden!«
»Warum hast du nicht schon früher von deinem Dorf erzählt?«, gebärdet Asis mit gespielter Empörung.
»Früher hast du dich für diese Dinge doch gar nicht interessiert!«
Ja, Hafis hat recht. Lange hat er alles, was mit der Welt der Gehörlosen zu tun hat, von sich fernzuhalten versucht.
»Können wir dein Dorf mal besuchen?«, fragt er nun.
»Wenn wir das hier überleben, natürlich«, erwidert Hafis. Und die drei anderen sind sich für einen Augenblick nicht sicher, ob Hafis Entgegnung nur scherzhaft gemeint ist. Sie erinnern sich nur allzu gut noch an ihre Verhaftung und die Nacht im Gefängnis. Das war alles andere als witzig! Und doch sind genau sie es, die hier wieder zusammensitzen und der Gewalt trotzen. Und plötzlich fühlt Asis sich diesen Freunden so nahe wie noch nie jemandem zuvor. So muss sich die Freundschaft zwischen Wildtöter und Chingachgook angefühlt haben.
»Doch glaube nicht, Am Hadidah wäre das Paradies. Außer dass alle Gebärdensprache
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