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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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Nagar-Juna-Verteidigungskommitee beschließt, eine offizielle Abordnung auf den Campus zu entsenden und die Adener Studentenschaft zur Teilnahme an ihre Aktion aufzufordern. Die Delegation soll aus Akram und Amir bestehen und sich sofort auf den Weg machen.
    Nachdem Akram und Amir gegangen sind, macht sich für einen Augenblick ein Gefühl des Alleingelassenseins unter Asis’ Schulkameraden breit. Er weiß, er darf diesem Gefühl keinen Raum lassen, sonst ist die Aktion bereits gescheitert, ehe sie richtig begonnen hat. Er muss den Unterricht fortsetzen. Aber er hat ihnen bereits alles erzählt, was er über seinen Dichter in Erfahrung gebracht hat.
    An der Straßenecke entdeckt er einen Streifenwagen. Er hat keine Ahnung, wie lange er da schon parkt. Während seines Vortrags und der anschließenden Debatte mit Akram hat er kein einziges Mal aus dem Fenster geschaut.
    Zwei Polizisten erkennt er im Fonds des Wagens. Sie sitzen einfach da und beobachten die Straße, vielleicht auch das Haus.
    »Ghufran, du setzt den Unterricht fort!«
    »Ich? Ich habe doch gar keine Ahnung von Nagar Juna oder irgendeinem anderen Dichter!«
    »Du kannst unterrichten, was du willst!«
    »Ehrlich gesagt, ich habe von gar nichts eine besondere Ahnung!«
    »Unsinn, Jeder weiß etwas ganz besonderes, was die anderen nicht wissen!«
    »Zum Beispiel? Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht so viel gelesen, wie du in einer Woche liest.«
    »Dein Vater ist doch Fischer.«
    »Soll ich euch etwa einen Vortrag über das Fischen halten?«
    »Warum nicht?«
    «Ob ihr’s glaubt oder nicht, da gibt es sogar eine spannende Geschichte, nämlich wie ich meinem Vater und seinen Kollegen Unterricht in Gebärdensprache gegeben habe.«
    »Erzähl!«
    »Das war nach dem plötzlichen Sturm vor ein paar Jahren. Da lebtest du noch nicht in Aden. Das Unwetter kam völlig überraschend, viele Boote sind gekentert und sieben oder acht Fischer ertrunken. Ein Problem war, sie konnten sich nicht verständigen, der Wind und die unruhige See waren zu laut. Und ihr wisst ja, dass unsere kleinen Fischerboote keine Funkgeräte oder sowas haben. Ich stand am Ufer, mit vielen anderen, und hab das alles gesehen. Und ich habe gedacht, wenn Mansur jetzt dadrüben in einem der Boote säße, ich könnte mich mit ihm mühelos verständigen, solange kein Nebel oder Regenschauer aufkommt. Aber wann regnet es schon mal in Aden!
    Mein Vater hatte noch mal Glück gehabt. Auch sein Boot ist umgeschlagen, aber er hat nur die Netze verloren. Erst versteht er gar nicht, was ich ihm zu erklären versuche. Weder er noch sonst jemand in der Familie hat sich je die Mühe gemacht, Gebärdensprache zu lernen. Das Wichtigste muss ich ihm aufschreiben. Dann endlich begreift er. Und dann treffen sich wohl ein halbes Jahr lang jeden Mittag ein Dutzend Fischer aus der Siedlung am Alten Hafen, und ich muss ihnen nach der Schule Unterricht in Gebärden geben, keine Gedichte oder sowas, sondern ganz alltägliche Dinge, da kommt ein Sturm auf, oder mir ist das Benzin ausgegangen, das Netz hat sich in der Schraube verfangen oder ich habe mich mit dem Fischmesser verletzt.
    Und wenn du die Fischer heute vom Strand aus beobachtest, siehst du sie manchmal wild mit den Händen gestikulieren, das ist ihre Art, sich über einen großen Abstand hinweg zu verständigen, nicht ganz so geschickt und elegant, wie wir das tun, aber immerhin: Es funktioniert.«

47
    Es wird Mittag, und Akram und Amir sind noch immer nicht zurück. Am Nachmittag gehen die ersten Mitschüler. Sie fürchten, ihre Eltern könnten sich Sorgen machen. Einige langweilen sich auch in dem leeren Haus. Niemand ist bisher aufgetaucht, um sie herauszuwerfen. Andere wollen nur mal eine Flasche Wasser oder eine Packung Kekse kaufen und kommen nicht zurück. Vielleicht hat auch der eine oder andere Angst vor der Nacht. Natürlich wurde der Strom schon vor langer Zeit abgestellt. – Wie auch immer, am Abend ist Asis mit Ghufran, Mansur und Hafis allein in dem Haus. Nun könnte der Wächter fast ohne Unterstützer mit ihnen fertig werden. Aber auch der Wächter hat sich offenbar davongemacht.
    Hafis zündet die mitgebrachten Kerzen an. Im Kerzenlicht wirkt der leere Raum sogar gemütlich. Die vier sitzen nahe beieinander auf ihren Decken. Wenn Asis jetzt alleine wäre, würde er lesen. Denn allmählich geht ihnen der Stoff für eine Unterhaltung aus. Vielleicht hätte jemand an einen Ball oder an ein Kartenspiel denken sollen. Aber zum

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