Die Laute (German Edition)
sprechen, ist es ein Dorf wie andere auch, mit Familienfehden, Nachbarschaftsstreit, alltäglichem Ärger und Überdruss. Die jungen Leute, Taube wie Hörende, wollen alle fort, weil sie die Enge und Eintönigkeit des Dorflebens kaum noch ertragen.«
Asis legt seinen Kopf in Hafis’ Schoß. Er weiß nicht, warum er das tut. Wahrscheinlich ist er einfach müde, nach diesem langen, ereignislosen und zugleich so erlebnisreichen Tag. Und natürlich ist es bequemer so. Gehörlose berühren sich ständig. Er denkt nicht weiter darüber nach. Und auch Hafis scheint es in keiner Weise zu stören.
Sein Ohr liegt an Hafis’ Bauch. Er spürt den Rumor in Hafis’ Eingeweiden. Spürt trotz der geschlossenen Augen Hafis’ Gebärden, während er weiterspricht: »Manche Gehörlosen in meinem Dorf ärgern sich zwar hin und wieder darüber, dass sie taub sind, aber niemand betrachtet es als ein großes Unglück oder schwerwiegendes Problem. Zu einem Problem wird es erst, wenn wir das Dorf verlassen. Aber hat nicht jeder, der seine Familie und sein Dorf verlässt, Probleme?«
Hafis’ Gebärden gehen durch den ganzen Körper, und Asis spürt die leichten Erschütterungen. Hafis’ Lebendigkeit beruhigt ihn, sie ist wie ein Gebärdenwiegenlied. Mit dem Gefühl vollkommener Geborgenheit schläft Asis ein.
48
Am Morgen trifft ein Mitschüler nach dem anderen wieder ein, pünktlich wie zum Schulbeginn. Und alle haben eine glaubwürdige Entschuldigung, warum sie über Nacht nicht haben bleiben können. – Asis und seine drei Nachtgefährten zucken gleichgültig die Achseln. Für einen Fünfzehnjährigen in Aden ist es fast unmöglich, abends nicht nach Hause zu kommen und die Nacht woanders zu verbringen, und sei es auch nur bei einem guten Freund. Nur die vier Nachtfalken konnten sich diese Freiheit nehmen: Ghufrans Vater ist nachts mit seinem Fischerboot draußen auf dem Meer, Mansurs Vater ist tot, und er selbst ist der Älteste, also Herr des Hauses, Hafis wohnt weit von seiner Familie entfernt bei einer unverheirateten Tante, und Ali behandelt Asis wie einen Erwachsenen und mischt sich nicht in seine Angelegenheiten ein.
Immerhin haben die anderen reichlich zu essen und sogar frischen Tee in Plastikbechern aus dem Café Arwa von der anderen Straßenseite mitgebracht. Und Murat hat alle Morgenzeitungen durchgeblättert und nach Berichten über ihre Aktion gesucht. Aber nur ein Blatt, und ausgerechnet das regimetreueste, enthält eine kleine Notiz auf der Lokalseite. Voller Abscheu zeigt Murat ihnen den Artikel:
Taubstummenbande besetzt das Hotel June
lautet die Schlagzeile. »Das hört sich ja an, als gäbe es hier noch ein Hotel!«, gebärdet Ghufran spöttisch.
»Taubstummenbande! Offenbar halten sie uns für Kriminelle!«, empört sich Murat.
»Einbrecher kann man eben leichter festnehmen, als eine Schulklasse minderjähriger Lyrikliebhaber«, kommentiert Hafis lächelnd.
Alle sind sie mehr aufgebracht oder amüsiert als ängstlich. Sie machen es sich auf den Decken oder dem nackten Estrich bequem und nehmen gemeinsam ihr erstes oder zweites Frühstück ein.
»Wo steckt eigentlich Amir?«, fragt Murat schließlich. »Und kommt Akram heute nicht zum Unterricht?«
»Keine Ahnung. Sie sind gestern nicht mehr aufgetaucht«, antwortet Asis. »Vielleicht hat es Probleme an der Uni gegeben.«
Er steht auf und schaut aus dem Fenster. Im Café Arwa gegenüber sitzen die üblichen Gäste, Männer auf dem Weg zur Arbeit, und natürlich die Männer ohne Arbeit, die lieber hier als zu Hause den Tag verbringen. An der Ecke, wo gestern der Streifenwagen stand, parkt nun ein Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei. Dieser blaue Kastenwagen mit seinen zwei Eisenbänken auf der Pritsche lässt Asis’ Herz heftiger schlagen.
Dann sieht er Amir die Straße hinaufkommen. Amir verhält sich so, als sähe er den Mannschaftswagen gar nicht, ignoriert aber auch das ehemalige Hotel June mit dem bunten Transparent an der Fassade, bis er direkt vor der Tür steht und rasch hineinschlüpft.
Er sieht todmüde aus. Will sich aber weder setzen, noch in Ruhe einen Tee trinken. Er beginnt sofort zu berichten: Erst wollte man sie gar nicht auf den Campus lassen, weil sie beide keinen Studentenausweis vorzeigen konnten. Als Akram dann ehemalige Kommilitonen vor der Universität angesprochen habe, seien die Sicherheitsleute herausgekommen und wollten ihnen verbieten, unter den Studenten für ihre Aktion zu werben. Ein Wort gab das andere.
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