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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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sich geht, trifft ein büchsengroßes Blechding Ghufran am Ohr, fällt auf den Zimmerboden und explodiert. Ghufran taumelt, Blut sickert aus dem Ohr, seine Hände suchen vergeblich nach Halt, und während Asis versucht, ihn aufzufangen, ehe er bewusstlos auf den mit Glassplittern übersäten Zementboden aufschlägt, füllt das Zimmer sich rasend schnell mit einem beißenden Qualm. Asis stürzt hart neben Ghufran, seine Augen sind tränenblind, ätzender Rauch füllt seine Lungen, sodass er innerlich zu verbrennen glaubt.
    Die anderen tasten sich hustend und weinend aus dem Zimmer, während Asis neben seinem reglosen Freund liegen bleibt und nur sein T-Shirt mit Wasser übergießt und es ihm und sich über das Gesicht zieht. Aber auch der nasse kühle Stoff stoppt das Feuer und die Tränen nicht.
    Der Morgen ist grau, fast schwarz, das Zimmer dunkel. Durch das geschlossene Fenster dringt eine feine Vibration wie von einer fernen Menschenmenge herein. Als würde sie am Stadtrand zusammengetrieben, um evakuiert zu werden. Ich schaue auf die Uhr, ob der anbrechende Tag sich nicht vielleicht in der Zeit geirrt habe. Es ist, als wäre ich in einer Höhle erwacht. War sie nicht einmal ein Ort der Geborgenheit, als man in einer Horde zusammenschlief, eng umschlungen vom Atem der anderen, wie noch heute in den jemenitischen Dörfern? Nun können wir uns die Berührung des Nächsten nur noch als Sex vorstellen. Das macht das Dasein unendlich kompliziert und einsam. Verglichen mit der ständigen Nähe anderer in meiner Kindheit, den direkten Hautkontakt mit meinen Schwestern und Spielkameraden, bin ich hier definitiv ausgekühlt. Für dieses Leben mit einem stillenden Drahtgestell sind wir nicht geschaffen. Ich verstehe jene Perversen, die sich in überfüllte Straßenbahnen und Busse zwängen, um endlich wieder die Nähe und Wärme anderer Körper an ihrer schon ganz erfrorenen Haut zu spüren. Die Anonymität ist wesentlich. Denn es geht nicht um ein zielgerichtetes Begehren, es geht um ein Grundgefühl des Aufgehobenseins. Das Begehren ist das Gegenteil davon, aber im Grunde nur noch die einzig mögliche oder zumindest zugelassene Form des sich Aneinanderschmiegens.
    Dieser Höhlenmorgen ist kalt. Alleine liege ich im eisigklammen Dezemberlicht, das in meine Schlafkammer sickert. Das Tapetenmuster besteht aus verblichenen Rosenblüten, deren kantige Blätter eher Zahnrädern gleichen, die, wenn man sie nur lange genug anstarrt, sich zu drehen beginnen. Mein Körper fühlt sich wie ein einsames Stück Holz an, für das Feuer aufgelesen, dann aber unbenutzt zurückgelassen, als nach und nach alle Bewohner die Höhle verließen, sich Schlafplätze auf schmalen Betten suchten und mit unzähligen Vorschriften und Vorrichtungen dafür sorgten, den anderen und sich selbst nicht mehr zu berühren.
    Der Wunsch nach Hautkontakt und jener nach Geschlechtsverkehr sind inzwischen so sehr miteinander vermengt, dass es permanent zu Missverständnissen kommt. Anstatt sich einfach nur aneinander zu reiben, wird jeder Beteiligte zur äußersten Verausgabung gezwungen. Das Äußerste kann keine Gemeinschaft stiften. Es vereinzelt uns nur noch mehr.
    In meiner dunklen Höhle liegen, und sei es auch gefesselt und mit verbundenen Augen, und nichts beweisen müssen, ja nichts beweisen zu dürfen! Die Hand des anderen will nichts, liegt wie zufällig da, fährt aus einem uralten Instinkt mit den Fingerkuppen an den Körpernähten entlang, wie auf der Suche nach Ungeziefer. Der entspannte weiche Bauch wärmt den Hohlraum des Rückens, ins Gesicht strahlt die Wärme eines anderen Gesichts, so nah, dass kein böser Geist und kein Albtraum Platz zwischen ihnen findet.
    Ich koche mir eine Tasse Tee und gehe wieder ins Bett. Ich lasse das Licht gelöscht. Seit Tagen fällt mir kein guter Satz mehr für
Marsyas
ein. Und die ›Melodien‹ sind zu einem dürftigen Rinnsal geschrumpft, nichts, was einen Wettstreit zwischen Göttern füllen könnte. Und plötzlich überfällt mich die Angst, dass mein Tun nicht nur niemanden interessiert, sondern auch für sich genommen keinerlei Bedeutung hat. Diese ganzen inneren, unhörbaren Melodien sind nichts anderes als ein vollkommen privater und idiosynkratischer Wahn. Nicht einmal ich selbst kann die Wirkung dessen, was ich produziere, überprüfen. Lauernd beobachte ich die Gesichter der anderen, um jede Bewegung, die meine Musik möglicherweise in ihnen erzeugt, darauf abzulesen. Auf einmal gähnt ein Zuhörer,

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