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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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dann, es handle sich um eine Flasche selbstgemosteten Stachelbeersafts aus dem Garten seiner Mutter, wie man ihn in ganz Polen nicht noch einmal finde, und um selbstgebackene Safran-Zimt-Plätzchen nach einem alten Familienrezept, das von einem Urgroßvater mütterlicherseits durch eine ausgedehnte Orientreise nach Ägypten und auf den Sinai in Familienbesitz gelangt sei.
    Der Charme und Schalk, der aus den Augen des jungen Polen blitzt, lässt mich vollkommen kalt. Immer noch ist mir nicht ganz klar, was er von mir will. Also frage ich ihn ganz direkt.
    Für einen Augenblick wirkt er nun doch verlegen. Und fast tut es mir leid, ihn so abweisend empfangen zu haben. Aber ich kann es nicht ändern. Neid hat schon die Engel vom Himmel gestürzt. Und alle meine Ressourcen für Großzügigkeit und Gastfreundschaft sind restlos erschöpft. Ich funktioniere gerade noch mit einem Notstromaggregat, und auch das nicht mehr lange. Jede Begegnung mit einem halbwegs normalen Menschen strengt mich an, erschöpft mich. Es kommt mir vor, als lüden sie ihre Batterien der Normalität an meinem Versagen auf.
    Seine Zuversicht scheint vor meinem Missmut endlich einzuknicken. Seufzend beugt er sich erneut zu seiner Tasche herab, stellt die Flasche und das Päckchen zu den anderen Abfällen in meinem kleinen, kleinlichen Empfangsraum, zieht einen Laptop heraus und hält ihn mir hin.
    »Den kannst du haben, bis du mit deiner Oper fertig bist«, erklärt er.
    Als ich nichts erwidere und auch keinerlei Anstalten mache, seine Leihgabe entgegenzunehmen, legt er den Rechner auf das Garderobenschränkchen und wendet sich zur Wohnungstür. Ich folge ihm, um sie hinter ihm zu schließen. Im Hausflur dreht er sich noch einmal um. »Das nächste Mal sage ich vorher Bescheid, wenn ich dich besuchen komme!« – Das nächste Mal? Wie viele Zurückweisungen braucht er denn noch, um zu verstehen? – Er nickt mir zu, fast schon wieder lächelnd, und stürmt die Treppe hinab, dass das ganze Treppenhaus von den Erschütterungen erzittert.
    Im Internet finde ich die Anleitung zur Eskalationsstufe Zwei: Backpulver und Haarspray. Damit könnte man vermutlich auch Bomben bauen. Also besorge ich mir die Zutaten in zwei verschiedenen Supermärkten. Das Haarspray soll angeblich ihre Tracheen verkleben und zum Erstickungstod führen. Ich greife zum billigsten Produkt, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Markenspray noch diesen brutalen Klebeeffekt ausübt. Und was das Backpulver betrifft, bin ich mir über die genaue Wirkung im Ungewissen. Werden diese kleinen gierigen Fressgeister platzen wie ein aufgeblähter Teig im überhitzten Ofen? Ich sehe schon die Mutanten unter den Schränken hervorkriechen, jede einzelne von ihnen plötzlich heuschreckengroß, vom Alles- zum Aasfresser, zum Räuber verpuppt, Treiber-, Wander-, Amazonenameisen, eine ganze Kolonie auf Raubzug, die auch kleine jemenitische Säugetiere nicht verschmäht. Wie bewaffnet man sich gegen einen Angriff tausender Hautflügler? Mit Flammenwerfern? Vereisungskanonen? Muss mir die einschlägigen Videos noch einmal reinziehen:
The Hive, The Attack of the Killer Ants

    Die Küchenfliesen sind verklebt, auf allen glatten Flächen liegt ein feiner weißer Staub, es riecht nach einem wochenlang nicht mehr gelüfteten Damensalon, Lavendel und Haarspray, doch warte ich noch mit dem Putzen, denn die Invasoren scheinen tatsächlich auf dem Rückzug. Nur in der Spüle finde ich auf dem Berg schmutzigen Geschirrs noch einige Dutzend von ihnen herumwimmeln. Womöglich kommen sie ja durch den Ausguss. Dann hätte es wohl gereicht, einfach nur den Abfluss zu verstopfen. Oder hin und wieder mal das Geschirr abzuwaschen.
    Gewissenlos schwemme ich sie in die Kanalisation. Sicher können sie nicht schwimmen. Und doch ist jedes dieser winzigen Insekten ein Wunder an Bewegung, Wahrnehmung und Funktion, eine komplexe Maschine, die nachzubauen das Stahlwerk hier in Nowa Huta sprengen würde.
    Ohne meine Melodien im Kopf wäre ich wie sie, reges Teilchen eines Stammesverbands, fähig, mich zu orientieren, mit meinen Artgenossen zu kommunizieren, doch ohne einen Gedanken an den Sinn meines Tuns zu verschwenden. Und genau damit beginnt ja all unsere Depression, unsere Fettsucht, unsere Wut, unser Nägelkauen und Kotzen, unsere Fahnenappelle und – fluchten, unsere Heroin- und Giftspritzen, unsere Drohnenangriffe und Gefällt-mir-Klicks. War es ein Fehler, diese Invasion der natürlichen Abfallbeseitiger,

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