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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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dann ein zweiter, dritter, und ich rede mir verzweifelt ein, es sei allein das Gähnen des ersten, das die anderen angesteckt habe. Und nun also diese Angst. Ein Glücksfall. Das Ende jeder verlogenen Künstlerromantik, das Werk werde sich schon durchsetzen; das Werk sei jede Entbehrung wert. Aber es gibt die Musik ja gar nicht, wenn ihr niemand zuhört! Und es gibt mich nicht. Wer bin ich, wenn mich niemand hört? Ein Molekülhaufen, eine Made, zusammengehalten nur durch die Abwehr ihrer Fressfeinde.
    Dann entdecke ich die ersten Ameisen in meinem Bett. Einige liegen tot auf dem Laken, schwarze Punkte wie Fliegenkot. Haben mich offenbar noch gebissen, bevor mein unruhiger Schlaf sie zerquetscht hat; ein Dutzend roter quallenartiger Flecken an den Schenkeln und Hüften. Muss nun wohl selbst in Lavendelöl baden, will ich nicht eines Morgens mit einer schwarzen Ameisenmaske über dem Gesicht aufwachen, Mund und Nase verstopft vom gierigen Gewimmel, schon auf dem Vormarsch in die Bronchien, die Stirnhöhlen, ins Innenohr. Vielleicht mögen sie inzwischen ja Lavendel.
    Das Lichtzeichen. Jemand ist an der Tür. Seitdem Cześka fortgegangen ist, hat niemand mehr vor meiner Tür gestanden, geschweige denn meine Wohnung betreten. Nichts hier ist auf einen Besuch vorbereitet. Seit Wochen ist die Deckenlampe in der Küche defekt. Ich hause buchstäblich in einem Loch, ziehe die Vorhänge nicht mehr auf, weil ich am Tag schlafe und in der Nacht wach liege, und natürlich auch, um die Verwahrlosung nicht zu sehen, die ungewaschenen Kleidungsstücke, die auf dem Boden herumliegen, und das dreckige Geschirr, das sich in der Spüle stapelt. Wovon habe ich in den letzten Wochen gelebt? Von Tee und Tütensuppen. In diesem Viertel fällt mein graues Gesicht mit den eingefallenen Wangen und den Rändern unter den Augen ja nicht weiter auf. Was mir der Tee und die Tütensuppen, ist den Nachbarn der billige Tabak und der Wodka.
    Erneut betätigt jemand die Lichtklingel. Habe ich mich mit irgendeinem Geräusch bemerkbar gemacht? Einen Augenblick hoffe ich, es könnte Cześka sein, die ihr Fortgehen bereut. Aber dann kommt mir dieser Gedanke unrealistisch vor. Cześka ist niemand, der irgendetwas bereut, Wer immer dort vor der Tür steht, ein Überbringer froher Nachrichten wird es nicht sein. Wer taucht um diese Zeit unangemeldet auf? Die Ausländerpolizei, die Hauswartsbrüder, die Zeugen Jehovas. Wer immer mir einfällt, keinem von ihnen würde ich jetzt gerne dir Tür öffnen. Aber das Türlämpchen blinkt lustig weiter, als wüsste derjenige, der da draußen ausharrt, dass der Bewohner zu Hause, aber taub ist und immer ein wenig länger braucht, um auf die Türklingel aufmerksam zu werden.
    Ich schleiche in den engen dunklen Flur, stolpere über Schuhe, Taschen, Zeitschriftenstapel und noch nicht hinuntergetragene Müllbeutel zur Wohnungstür und luge durch den kleinen Spion hinaus auf den Treppenabsatz, direkt in Rafałs heiteres und entspanntes Gesicht. Obwohl ich hier im Dunkeln stehe, grinst er mich nun breit an und fordert mich auf, ihn hereinzulassen.
    Was will er hier? Am Ende der Welt? Missmutig öffne ich einen Spalt weit die Tür. Mein Aussehen müsste ja beredt genug sein, ihm klar zu machen, dass ich gerade nicht auf Besuch eingestellt bin. Und der Geruch, der aus meiner Höhle durch diesen Spalt ins Treppenhaus dringt, spricht doch für sich selbst.
    Aber meine verfilzten Locken, meine fleckigen Shorts und das speckige Unterhemd schrecken Rafał nicht, mit sanfter Selbstverständlichkeit schiebt er die Tür auf, bis nicht mehr ich, sondern nur noch das Gerümpel und der Müll im engen Flur ihm Widerstand entgegensetzen. Er zwängt sich hinein, sucht nach einem Lichtschalter, und findet ihn, ich weiß nicht, ob zu meinem Entsetzen oder zu meiner Genugtuung, auch sofort, und eine matte Fünfundzwanzig-Watt-Birne erhellt diesen archäologisch sicher aufschlussreichen Höhleneingang oder Höhlenausgang, wie man will.
    Was hat er hier zu suchen? Wenn er glaubt, ich ließe ihn noch weiter vordringen, irrt er sich. Mit verschränkten Armen stehe ich vor der Tür zur Wohnküche und versperre ihm jeden anderen Weg als den zurück ins Treppenhaus.
    Doch so leicht gibt ein Rafał Singer sich nicht geschlagen. Er nimmt seine Tasche von der Schulter, stellt sie auf den handbreiten freien Spalt Linoleum zwischen seinen Füßen, öffnet sie, zieht eine etikettlose Flasche und ein Päckchen hervor, sieht sich suchend um und gestikuliert

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