Die Laute (German Edition)
letzten Szenen des Schindens, wenn Marsyas keine Stimme mehr hat und sein Schmerz nur noch aus den Augen spricht, erklingt dieses vom Schnee erstickte eisige Flüstern.
Es ist vierzehn Uhr zehn, als ich meinen Vater drüben auf der anderen Straßenseite der ulica Ludźmierska an meinem Wohnblock vorbei in Richtung aleja Generał Władisław Andersa humpeln sehe. Er bleibt kurz stehen, als er mich hinter dem Küchenfenster entdeckt, und macht eine zaghafte, aber deutlich sichtbare Gebärde, die in etwa ›Alles erledigt!‹ besagt. Dann wendet er sich ab und humpelt weiter, ohne auf eine Erwiderung zu warten.
Er hat lange graue Bartstoppeln im Gesicht, und sein graues Haar ist ihm weit über die großen Ohren gewachsen, dieselben, die er mir vererbt hat. Er hat sich schon lange nicht mehr die Haare schneiden lassen, und seit wann und warum ihm das Gehen schwer fällt, kann ich nicht sagen, denn ich habe ihn seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen. Vielleicht ist er gestürzt, vielleicht ist es auch nur das Alter.
Was hat er noch zu erledigen? Hier in Nowa Huta?
In Bridgeport ist es kurz nach acht. Sicher hat Said seinen Laden schon geöffnet.
salam, bruder! wie gehts? hast du schon
eine neue freundin gefunden?
so schnell geht das nicht, habibi. aber ich
habe inzwischen einen neuen laptop.
immerhin ein anfang. und was tust du noch dafür?
wofür?
für die liebe! oder wenn du nicht gleich die
große oper willst, für den ganz banalen sex.
gehst du aus? treibst du dich herum?
ich arbeite gerade ziemlich hart an
meiner ganz privaten oper weiter.
verstehe. doch wenn du nur zuhause rumhängst,
kannst du natürlich keine frauen kennenlernen.
habe weder geld noch zeit, mir die nächte
in bars um die ohren zu hauen.
gibt es denn wenigstens in deiner privatoper
ein paar attraktive frauen?
9 musen und ein heer von nymphen.
ich hoffe, du lädst mich zur premiere ein.
klar. hat bridgeport denn ein opernhaus?
ein weltberühmtes! sag nicht, du
hast noch nie davon gehört!
die met würde ja schon reichen.
dieser heruntergekommene schuppen? da müssen
deine nymphen schon wirklich steile zähne sein, wenn
du mich nach nyc in die premiere locken willst.
du vergisst die musen!
das sind doch die, mit denen leute wie du ins bett gehen,
wenn ihnen nichts vernünftiges einfällt, oder? banausen
wie ich geben sich gerne mit einer nymphe zufrieden.
ich dank dir für deine bescheidenheit.
und wie kommst du über die runden, ohne job
und nur mit anspruchsvollen musen im bett?
im kopf, said, musen im kopf! ansonsten fange ich die
streunenden katzen und hunde von der straße ein. an
wochentagen gibt es katzengulasch im fladenbrot,
am wochenende hundesteak auf löwenzahnsalat.
was machst du denn heute noch?
nichts. am abend wird hier, bis auf einige teure
touristenrestaurants und hotels, alles geschlossen sein.
das ist in bridgeport genauso. werde meinen
laden ebenfalls am nachmittag dichtmachen. ab
5 oder 6 sind dann wirklich nur noch obdachlose
auf der straße. treff mich am abend vielleicht mit
ein paar landsleuten aus der nachbarschaft.
jemand, den ich kenne?
nein, niemand aus aden oder ibb. die
meisten sind sanaanis.
hast du nachrichten von zuhause?
nur die üblichen schreckenmeldungen.
gehts nicht etwas genauer?
so genau willst du es gar nicht wissen, oder?
natürlich! raus mit der sprache!
heute morgen um 3 uhr, hier war es noch gestern,
7 uhr abends, haben flugzeuge drei dörfer in abjan
bombardiert. und das am heiligen abend!
Natürlich feiert man im Jemen nicht Weihnachten. Dieser Samstag ist ein ganz gewöhnlicher Wochenanfang. Aber Said lebt ja schon so lange in Bridgeport wie ich in Nowa Huta. Da übernimmt man einiges von seinen Gastgebern.
amerikanische flugzeuge?
die regierung behauptet natürlich, die
amerikaner seien nicht beteiligt gewesen.
Said muss es nicht weiter ausführen. Jeder weiß, dass die Regierung lügt. Seit Jahren sind amerikanische Geheimdienstmitarbeiter, Militärberater und Ausbilder im Land. Teils haben sie sich ins Land gedrängt, teils wurden sie gebeten. Denn natürlich bringen sie nicht nur den Tod, sondern auch Geld ins Land, sodass es genug einflussreiche Leute im Jemen gibt, die von ihrer Anwesenheit profitieren. – Auch wenn keine amerikanischen Piloten in den Jets gesessen haben, die abgefeuerten Raketen stammen mit Sicherheit aus amerikanischer Produktion.
über 50 tote, darunter frauen und kinder. natürlich
behauptet die
Weitere Kostenlose Bücher