Die Laute (German Edition)
nun einmal wie Kinder, oder stellen sich taub. Vielleicht ist es der eine oder andere ja auch. Wer kann das hier mit Bestimmtheit sagen?
»Die Leute in Am Hadidah sind nicht immer leicht zu verstehen«, erzählt Hafis. »Manchmal sehen Dinge weiß aus, sind in Wirklichkeit aber schwarz, oder sie sehen schwarz aus und sind in Wirklichkeit weiß!«
Als er Asis fragendes Gesicht sieht, erklärt er: »Du weißt, dass die Frauen überall sonst nicht dieselbe Achtung erfahren wie die Männer. In meinem Dorf ist es anders. Es gibt Feste im Dorf, die nur Frauen feiern dürfen. Deswegen werden die Männer – aber du wirst es ja selber sehen, wenn du geduldig bist.«
Was wird er sehen? Gibt es noch mehr Besonderheiten als jene, dass hier alle die Gebärdensprache beherrschen?
»Sei wie das Kamel«, rät Hafis lächelnd, »ausdauernd auf langen Strecken, seinem Herrn treu ergeben und seinen Feinden ein furchterregender Gegner!«
Während Hafis seiner Familie bei der Arbeit hilft, streunt Asis durchs Dorf. Er weiß noch nicht, was er hier eigentlich sucht. Er hat Ferien, aber nach Am Hadidah fährt man nicht der Erholung oder der schönen Aussicht wegen.
Er beginnt mit einfachen Dingen, zählt die Menschen im Dorf, schreibt ihre Namen auf, zeichnet eine Karte von der Ortschaft und ihrer nächsten Umgebung in sein Notizbuch, markiert die Wasserstellen und Brunnen, die Trockentäler und die Erhebungen. Am Abend nimmt er an der Versammlung der Männer teil, hört still zu und äußert sich wenig, sodass er schon bald den Ruf hat, ein zurückhaltender und respektvoller junger Mann zu sein.
Er begreift, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen Geste und Gebärde gibt. Alle Menschen benutzen Gesten als Teil ihrer Kommunikation, entweder begleitend zu ihren Worten oder als eigenständige Zeichen wie Kopfnicken, Achselzucken oder Winken. Gebärden aber sind wie Wörter und werden genauso benutzt. Sie sind nicht unmittelbarer Ausdruck einer spontanen Regung, sondern stehen für etwas anderes. Jede Gebärde ist zwar auch eine Geste, aber nicht jede Geste eine Gebärde.
Bald hilft auch er den anderen bei der Arbeit, schleppt unzählige Wasserkanister von der Dorfpumpe zu Hafis’ Haus, obwohl es eigentlich die Arbeit der Frauen ist, begleitet Hafis’ jüngeren Bruder Rais auf seinen langen Märschen zu weit entfernten Weiden, friert mit ihm in der Nacht und verbrennt mit ihm am Tag. Die Achtung der Dorfbewohner steigt, denn niemand hätte geglaubt, dass ein Städter wie Asis so weite Strecken zu Fuß zurücklegen kann. Die Dorfbewohner geben ihm einen neuen Namen, die Gebärde für
langes Gehen
, oder
weites Wandern
.
Sie erzählen ihm die Geschichte des Dorfes und viele Geschichten über seine Bewohner, und Asis erkennt, dass ihr ganzes Denken auf Gegensätzen aufgebaut ist: Dorfmitglieder – Fremde, Alte – Junge, Männer – Frauen, Schafhirten – Dattelbauern, Kamele – Schafe … Doch trotz ihrer Mitteilsamkeit spürt er, dass sie viele Dinge für sich behalten, Geheimnisse, die ein Fremder nicht wissen soll oder die, so womöglich ihre Annahme, ein Fremder nicht verstehen kann.
Ist es das, was er sucht? Was diesen Aufenthalt zu einem Abenteuer macht? Aber hat er überhaupt ein Recht dazu, diese Geheimnisse zu ergründen? Während er zweifelt, sammelt er weiter, macht sich Notizen, nimmt am Dorfalltag teil, bis die Dorfbewohner manchmal vergessen, dass er hier nur ein Feriengast ist. Er aber vergisst es nicht.
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Normalerweise markieren Karten Orte, Wege und Grenzen. Aber wie markiert man das Besondere eines Ortes, seinen Unterschied zu anderen Orten, Wegen, Grenzen? Orte bestehen doch nicht nur aus der Anzahl ihrer Einwohner, Wege nicht nur aus ihrer Länge und Breite. Allein das Besondere sollte er auf seinen Karten und Skizzen verzeichnen!
Das Wadi von Am Hadidah ist nicht wirklich grün. Den größten Teil des Jahres, ja manchmal mehrere Jahre hintereinander liegt es trocken. Nur die grünen Finger der Dattelpalmen vermitteln den Eindruck einer Oase oder zumindest eines bewohnbaren Ortes inmitten karger braungrauer Hänge, knochentrockener Luft und einem wolkenlosen blauweißen Himmel. Ein steiniges Land der Hitze und des Schweigens.
Die Bruchstein- und Lehmziegelhäuser in Am Hadidah sind nahezu fensterlose sechs- oder siebenstöckige Wehrtürme, aus der Ferne kaum von den Felshängen, an die sie sich schmiegen, zu unterscheiden. Das Dorf liegt in einer der menschenfeindlichsten und abgeschiedendsten
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