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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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besuchen ihn in seiner kleinen Wohnung im neuen Schulgebäude. Eigentlich ist es gar keine Wohnung, sondern eines der kahlen Klassenzimmer aus nacktem Beton, das Idir al-Qaru mit einer Matratze, einem Tisch und einem kleinen Gaskocher eingerichtet hat. Da es keine Stühle gibt, sitzen nun alle drei mit einem Glas Tee vor sich auf Idirs Matratze.
    »Inzwischen habe ich ja, wie ihr seht, ein wenig Gebärdensprache gelernt, damit ich wenigstens im Dorf einkaufen kann, ohne mir wie ein Analphabet vorzukommen.
    Aber in der Schule ist es den Schülern strikt verboten, Gebärdensprache zu sprechen. Das habe nicht ich angeordnet, die Anweisung kommt von ganz oben, also von Leuten, die gar keine Ahnung haben, wie die Zweisprachigkeit hier funktioniert. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass man problemlos beide Sprachen, Arabisch und Gebärdensprache, gleich gut lernen kann und sie einander nicht stören.«
    Natürlich tut der Lehrer Asis ein wenig leid. Er ist einer der wenigen Fremden hier und wird auch wie ein Fremder behandelt. Aber noch mehr empört es Asis, dass die Schulverwaltung die Besonderheit dieses Ortes so wenig achtet. Im Grunde sollte man keinem Lehrer von außerhalb erlauben, hier zu unterrichten.
    »Oft reden die Schüler miteinander, wenn sie sich eigentlich auf den Unterricht konzentrieren sollten«, klagt Idir. »Aber da sie nicht sprechen, bemerke ich es manchmal erst, wenn sie zu ausschweifende Gebärden benutzen oder plötzlich auflachen. Und wenn ich sie auffordere, sie sollten während des Unterrichts nicht sprechen, antworten sie mir: Wir sprechen doch gar nicht! Aber wenn ich sie nicht ununterbrochen im Auge behalte, benehmen sie sich schlecht, sagen einander vor oder lenken sich gegenseitig ab.
    Ich gebe ja zu, dass es manchmal ganz nützlich ist, die Gebärdensprache zu beherrschen, wenn zum Beispiel die Entfernung zu groß ist, um sich noch hören zu können. Ich habe häufig gesehen, wie Mütter auf den Dächern ihrer Häuser standen und mit ihren Kindern auf der anderen Seite des Wadis gebärdet haben.
    Ich glaube, so machen es auch die Männer auf den Weiden, selbst die Hörenden, wenn sie sich aus großer Ferne über etwas verständigen oder einfach nur miteinander plaudern wollen.«
    Der Lehrer hat recht, Asis hat es selbst erlebt, erwidert aber nichts. Der Lehrer ist nie auf den Weiden gewesen. Und sicher wird ihn auch in Zukunft kein Dorfbewohner auffordern, ihn zu den Weiden oder sonst irgendwohin zu begleiten. Er kennt all diese Geschichten nur vom Hörensagen. Obwohl Asis kaum zwei Wochen hier ist, gehört er bereits mehr zur Dorfgemeinschaft als dieser müde Mann aus Mukallah, der schon seit mehr als drei Jahren hier lebt.
    Der Lehrer blickt auf die Uhr. »Zeit zum Abendgebet!«, gebärdet er. Hafis nickt. In Aden hat Asis seinen Freund nie beten gesehen. Aber hier ist Hafis Zuhause, hier beobachtet jeder jeden und weiß über alles Bescheid. Wahrscheinlich will Hafis sich und damit seine Familie nicht ins Gerede bringen. – Seufzend steht Asis auf und trottet den beiden hinterher.
    Seit Monaten hat er keine Moschee mehr betreten. Und nun kniet er hier, ein wenig abseits von den anderen. Es ist angenehm kühl in dem schlichten Raum. Niemand beachtet ihn.
    Er kennt die Gebete, aber es fällt ihm schwer, sie aufzusagen. Früher hat er sie mit den anderen zusammen heruntergebetet, ohne über ihren genauen Sinn nachzudenken. Nun jedoch, da jedes Wort ihm fremd geworden ist, bedeutet plötzlich auch das Wort
Allah
nichts mehr. Zumindest nicht mehr das, was er als Kind einmal mit dem Namen Gottes verbunden hatte.
    Er weiß, dass ein Gebet nichts taugt, wenn der Betende seinen Worten keine Bedeutung zumisst. Er versucht, andere Wörter zu finden als die vertrauten, die Hundert Namen Gottes. Aber es sind nicht die Namen, die ihm plötzlich nichtssagend vorkommen. Er weiß nicht mehr, an wen er sie richten soll. Wer ist das, den sie alltäglich anrufen, und der nie antwortet?
    Amir gestand ihm einmal, dass er nicht an Gott glaube. Nicht mal als Kind habe er an ihn geglaubt. Aber Amir ist von Geburt an taub. Wahrscheinlich kannten seine Eltern, die ja nie die Gebärdensprache erlernt hatten, keine Gebärde für Gott.
    Soweit wie Amir würde Asis nicht gehen. Nicht einmal diese Gewissheit hat er. Es ist viel einfacher und viel furchtbarer: Er weiß nichts von Gottes Sein oder Nichtsein. Und wenn er seinem Kindheitsglauben nachspürt, war es auch damals schon so, nur dass ihm das Nichtwissen

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