Die Laute (German Edition)
»Doch vergiss über das Geld die Schule nicht!«
Im Grunde ist Asis das Geld gleichgültig. Doch will er auf gar keinen Fall mehr Ali oder Said fragen müssen, wenn er mal zehn Rial für den Bus oder ein Glas Tee braucht. Er schämt sich ohnehin schon genug, von Ali so selbstlos unterstützt zu werden. Nur wer einmal auf die Großzügigkeit anderer angewiesen war, weiß, wie sehr diese Großzügigkeit schmerzen, ja geradezu Hass hervorrufen kann.
Sobald er ein wenig Geld zusammen hat, wird er sich ein eigenes Zimmer suchen. Er ist nun siebzehn. Lieber in einer fensterlosen Besenkammer wohnen, als sich jeden Tag aufs Neue seiner eigenen Mittellosigkeit schämen zu müssen. Also hat er nicht lange nachgedacht, als Murat ihm angeboten hat, in der Bäckerei seines Vaters mitzuarbeiten, in den letzten Ferienwochen bis zum Mittag, seitdem die Schule wieder begonnen hat, drei Stunden am frühen Morgen.
Trotz des eigenen Gelderwerbs gehen die kleinen Diebstähle weiter. In Am Hadidah gab es diesen Fremden in ihm nicht, der seinen Körper benutzt, um sich eine unverständliche Art von Befriedigung zu verschaffen. Er war einfach in Aden zurückgeblieben. Doch nun ist er wieder in Asis’ Körper geschlüpft und lässt ihn Dinge tun, die Asis nicht begreift.
Wenn dieser Fremde es Fremden antäte, es wäre immer noch nicht zu rechtfertigen, aber eher zu verstehen als die Lust, gerade jene zu bestehlen, die Asis am nächsten stehen. So dreist benimmt sich dieser Fremde inzwischen, dass selbst Said, der das Fehlen dieses oder jenes Gegenstandes immer erstmal auf seine eigene Nachlässigkeit in diesen Dingen geschoben hat, ihn nicht mehr ignorieren kann.
Vielleicht hätte er trotzdem weiter geschwiegen. Doch nun ist es sein neues Handy, das spurlos verschwunden ist, obwohl er am Abend noch Daten vom Telefon auf seinen Computer übertragen und seither das Haus nicht verlassen hat.
Er fragt Asis. Asis weiß von nichts. Said sucht weiter. Er hat einen Verdacht. Doch will er niemanden ohne Beweis beschuldigen. Wie oft schon hat er Dinge vermisst, ja sie bereits verloren gegeben, und sie am Ende dann doch an den verrücktesten Orten wiedergefunden. Er fragt die anderen Hausbewohner, dann setzt er sich mit mürrischer Miene an seinen Computer und wartet die Heimkehr seines Vaters ab.
Asis nimmt das alles wahr, ohne die gespannte Situation auf sich zu beziehen. Müde von Job und Schule liegt er auf dem Bett und liest.
Als Said die Stimme seines Vaters hört, geht er hinunter. Eine gute halbe Stunde bleiben sie in Alis Arbeitszimmer, dann kommen sie hinauf, folgen einem Signal, das Asis nicht hört.
Said hält das Handy seines Vaters in der Hand, hat seine eigene Nummer gewählt. Er hört den Klingelton seines Telefons aus seinem eigenen Zimmer dringen. Also hat er es doch nur wieder verlegt?
Said betritt das Zimmer, das Handy seines Vaters wie eine Wünschelrute in der ausgestreckten Hand. Ali folgt ihm.
Asis blättert eine Seite um und liest weiter. Er schaut kaum auf, als Said ans Bett kommt, seine Schultasche vom Boden nimmt und öffnet.
Erst als er Saids und Alis Blicke unverwandt auf sich gerichtet spürt, wendet er sich den beiden mit einem fragenden und vollkommen unschuldigen Gesichtsausdruck zu. Said zeigt ihm sein neues Telefon. Dann kippt er Asis’ Schultasche aus und lässt den Inhalt einfach auf den Boden fallen. Asis spürt die Erschütterung, die die Bücher und andere schwere Gegenstände beim Aufschlagen auf den Holzboden auslösen, zwei Memorysticks, der Anspitzerkompass, ein Parkerfüllfederhalter von Alis Schreibtisch, ein Zippo-Feuerzeug, Asis weiß nicht mehr, wo er es aufgelesen hat, es ist ihm auch egal. Im Augenblick empfindet er rein gar nicht mehr. Als bestünde sein ganzer Körper nur aus totem Holz. Und der Fremde, der das ganze Missverständnis aufklären könnte, hat sich feige aus dem Staub gemacht.
Ali fordert Asis auf, ihm in sein Arbeitszimmer zu folgen. Asis legt ein Lesezeichen zwischen die Seiten, auf denen Saids Aktion seine Lektüre unterbrochen hat, und folgt seinem Gastgeber mit der bewusstlosen Automatik eines Roboters.
»Verdammt noch mal, Asis!«, brüllt Ali, als er die Bibliothekstür hinter ihnen geschlossen hat. Wütend, wie Asis ihn bisher nur einmal erlebt hat, auf dem Polizeirevier in Khor, steht er vor ihm, in seiner einschüchternden Dienstuniform, doch inzwischen ein wenig kleiner als der siebzehnjährige Junge.
»Hat es dir hier an irgendetwas gefehlt? Warum fragst
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