Die Laute (German Edition)
im Grunde gleichgültig war. Er ist kein Ungläubiger, wird ihm nun klar, er ist ein Heide!
Nach dem Moscheebesuch sitzen sie vor Hafis’ Haus. So etwas wie einen zentralen Dorfplatz gibt es nicht. Die Moschee und die Schule liegen am Dorfrand, fast schon außerhalb des Ortes, an der neuen Asphaltstraße nach Am Sawad.
Eine religiöse Bruderschaft aus dem Norden habe die Moschee gestiftet, erzählt ihm Hafis. Früher, als er noch hier in die Grundschule ging, habe es gar keine Moschee in Am Hadidah gegeben, keine Moschee und keine Geistlichen. Wenn überhaupt, hätten die Männer zu Hause gebetet.
»Doch dann wurde zusammen mit der neuen Schule die Moschee gebaut. Und sie war noch nicht einmal ganz fertig, da wurden schon die ersten Freitagspredigten darin gehalten. Der erste Imam kam aus Sadah, einer Stadt weit im Norden, fast schon an der Grenze zu Saudi-Arabien. Er hielt nicht nur die Predigten und gab Koranunterricht, er lud sich auch selbst zu den Ratsversammlungen ein.
Du weißt, die Menschen hier sind Fremden gegenüber sehr höflich. Natürlich hatte er im Rat der Familienoberhäupter nichts zu suchen, so wenig wie der Lehrer oder der Barbier. Aber solange er vornehm schwieg, hat man ihn geduldet und alle wichtigen Angelegenheiten andernorts besprochen.
Doch eines Tages fragt dieser Imam plötzlich, wieso auch die Taubstummen des Dorfes das Recht hätten, an den Versammlungen teilzunehmen und sogar mit abzustimmen.
Die Ratsmitglieder sind bestürzt. Sie hatten über diese Frage niemals auch nur nachgedacht. Aber nun reagieren sie sofort. Die Bruderschaft muss ihren Imam zurückholen. Und der jetzige Imam lebt gar nicht hier, sondern in Am Sawad, und kommt nur einmal in der Woche zum Freitagsgebet her.«
54
Er öffnet das Notizbuch und starrt die leere Seite an. Er hat keine Ahnung, was er schreiben soll. In Am Hadidah füllte er Seite auf Seite, und zurück in Aden, dieser im Vergleich zu dem abgelegenen Dorf doch so lebendigen und abwechslungsreichen Großstadt, fällt ihm nichts ein.
Er hat Gesten im Kopf, doch keine Worte. Alles wäre ihm recht, ein Satz so gut wie der andere, aber er hat Angst, etwas Dummes zu schreiben, nur weil es gut klingt. Er betrachtet die zarten grauen Linien, die Leere dazwischen, nein, nicht Leere, sondern weiße Balken, Streifen von Verbandsmull, eine Binde um Stirn und Augen.
Er könnte alles schreiben, völligen Unsinn, Unaussprechliches, Gemeines, doch wenn er es aufschriebe, stünde es da und wäre so leicht nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Ob Gott genauso gezögert hat, bevor er das erste Wort sprach, um die Welt zu schaffen? Sprach er überhaupt ein Wort? Oder war es nicht vielmehr eine Gebärde?
In Am Hadidah hat Asis beobachtet, dass alle Kinder, Taube wie Hörende, schon Monate, bevor sie zu sprechen begannen, die Fähigkeit zum Gebärden besaßen.
Vielleicht wäre es besser, mit den Händen zu arbeiten, wie sein Vater, der Schuhmacher.
Said kommt ins Zimmer, schaut Asis über die Schulter und fragt: »Was machst du da?«
Asis zuckt mit den Achseln und schreibt auf die leere Seite: »Nichts.«
Said lächelt und zeigt eine Reihe weißer, leicht schiefstehender Zähne.
»Okay, dann will ich dich nicht weiter stören«, sagt er und setzt sich an seinen Computer.
Hat denn noch niemand zuvor die Notwendigkeit gespürt, den stillen, wortlosen Tanz der Gebärden in Worte zu übersetzen?
Ständig verwandeln er und seine Gefährten Worte in Gesten, aber vor allem jene der Kameraden, die von Geburt an taub sind, denken nicht in Worten, sondern in Gebärden. Für sie steht die Gebärde am Anfang, sie denken, sprechen, träumen, singen und dichten in Gebärden. Und niemand hat diese Poesie bisher in Worte übersetzt!
Das Räuspern des Sommers, eine Gebärde. Der Vulkankrater zeigt der schwitzenden Stadt den Vogel. Die dicke schwarze Bronzestatue der Königin Viktoria im gleichnamigen Park spreizt hochmütig ihren kleinen Finger ab. Geste. Gebärde. Sie trägt eine weiße Perücke aus Krähenkot. Der steinerne Löwe am Parktor gähnt träge, doch niemand lässt sich davon anstecken. Aus den Büschen am Zaun tritt ein Kind und stopft seine Augen in die Socken. Glücklicherweise haben sie Löcher. Der rostende Strommast näht die Haut zweier Ochsen zusammen. Der eine runzelt die gefiederte Stirn, der andere leckt seine teerbestrichene Hand. Der Stromschlag erinnert ihn an den Witz unter der Achsel seines Vaters. Der blutende Container lässt ihm den
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