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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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Vortritt.
    Ein guter Plan, mit der Kindheit zu beginnen, schreibt er unter das
Nichts
, und eine Zeit zu entdecken, in der man nur hörte, was man hören wollte. Man sah den Flug der Vögel, doch man sah ihren Gesang im Flügelschlag nicht. Viele Tausend Kilometer krächzen mitleidslos.
    »Said, ich brauche deine Hilfe! Bitte gib in deine magische Maschine die Wörter
ischârat jad
, Geste, und
harakat jad
, Gebärde ein!«
    Said streicht sich mit dem Zeigefinger von unten nach oben übers Kinn. »Na klar«, will er damit sagen. Dann schüttelt er den Kopf, während er das Zeichen für Schwierigkeit ausführt: »Kein Problem!« – Er macht das schon recht gut, denkt Asis.
    Said bewegt die Maus über die graue Kunststoffmatte, und auf dem Monitor öffnet sich eine weiße Seite, als habe Said nun sein Notizbuch aufgeschlagen. Er tippt zwei Wörter in das leere weiße Feld, und die Leere füllt sich mit einer ganzen Enzyklopädie von Wörtern. Asis versteht nicht genau, von wo dieses Wissen abgerufen wird. Er stellt sich das Internet wie einen hausgroßen Computer vor, in der sich eine tausendfach größere Bibliothek als die von Ali befindet, und mit der Saids Rechner nun wie eine Art Telefon verbunden ist.
    ischârat jad
, wortwörtlich bewegte Hand, Gebärde, Haltung, Wesensart
    englisch
gesture
, französisch
geste
, das auch
Tat
oder
Heldentat
bedeutet. In beiden Sprachen wird nicht zwischen
Geste
und
Gebärde
unterschieden
    Sanskrit
mudra
, eigentlich
Siegel, Zeichen
, siehe auch
    Abhayamudra: Geste der Furchtlosigkeit
    Varadamudra: Geste der Wunschgewährung
    Inanamudra: Geste des Erkennens …
    »Überspring die Musdras!«, gebärdet Asis ungeduldig. Said macht eine Geste des demütigen Gehorsams. Nun muss Asis lächeln. Durch das irisierende Leuchten des Bildschirms umgibt Said ein engelgleiches Licht. Sonst hat Asis nie etwas Besonderes an seinem Zimmergenossen gefunden Aber heute Abend umhüllt ihn die Aura eines Heiligen. Und es ist nicht nur das Licht, ist nicht nur ein oberflächlicher Schein. In seiner ganzen zögerlichen und nachdenklichen Art liegt in diesem Augenblick etwas Sanftes, ja Zartes.
    Es ist sehr sonderbar: Das Verstehen einer Geste möchten wir durch ihre Übersetzung in Worte erklären
.
    »Stopp!«, gebärdet Asis aufgeregt. »Wer hat das geschrieben?«
    »Ein abendländischer Philosoph namens Wittgenstein.« – Said zeigt auf den Namen.
    »Was schreibt er noch?«
    »Zum Stichwort
Geste

    Asis nickt.
    Said tippt zwei neue Wörter in seine magische Maschine, und kaum ein Augenzwinkern später liest Asis:
    Ich kann eine Geste nicht verstehen, wenn ich sie nicht als eine Möglichkeit in einem bestimmten Raum sehe. Also gibt es eine Grammatik der Gesten, ihre ›Geometrie‹. Abgesehen von den Sprachen, die wir geläufig sprechen, sind uns viele Gebärden in diesem Sinn vertraut. Aber worin besteht diese Vertrautheit? Eine Bewegung an sich ist ja noch keine Gebärde. Chinesische Gesten verstehen wir so wenig wie chinesische Sätze
.
    »Druckst du mir das bitte aus?«
    Said antwortet mit einem Stirnrunzeln, erfüllt dann aber Asis’ Wunsch.

55
    Sein Wecker vibriert. Es ist vier Uhr am Morgen. Er steht leise auf, um Said nicht zu wecken. Seine Sandalen zieht er erst im Flur an. Er wäscht sich kurz das Gesicht, dann eilt er zur Bäckerei.
    Dort, im Mehlstaub, flitzen schon Murat und Mansur umher. Murat walzt die faustgroßen Teigbällchen zu flachen Scheiben, Mansur schiebt sie in den heißen Ofen. In zwei Körben liegen schon die ausgebackenen Brotfladen, noch warm und schwitzend.
    Asis hat Kleidung zum Wechseln dabei. Seine Schuluniform hüllt er in eine Plastiktüte. Hier trägt er eine alte Hose, aus der er längst herausgewachsen ist, und ein Real Madrid-T-Shirt von Said. Dann nimmt er die beiden Korbriemen, schnallt sich den Brotkorb auf den Rücken und beginnt seine Runde.
    Es ist noch dunkel auf den Straßen. Aber die ersten Restaurants und Lebensmittelläden öffnen bereits. Zweihundert Rial verdient Asis für seine Lieferrunden vor der Schule, bar auf die Hand, genug für ein gutes Mittagessen. Wie ein lautloser Schatten eilt er durch die schattendunklen Gassen. Ali weiß natürlich von diesem Job, hat aber entschieden abgelehnt, etwas von dem Geld, das Asis sich frühmorgens vor der Schule verdient, für Kost oder Unterkunft anzunehmen.
    »Verwende es für Kleidung oder Bücher, oder leg es dir für größere Anschaffungen zurück«, hat Ali auf seinen Notizblock geschrieben.

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