Die Laute (German Edition)
die Große Schlange, wird heiraten und Wildtöter allein lassen. Auch wenn Wah-ta!-Wah, die mutige Delawarensquaw, eine vollkommene Gefährtin für Große Schlange zu werden verspricht, mag ich sie nicht, ja hab sie schon damals als Fünfzehnjähriger nicht gemocht. Sie steht störend zwischen den Freunden. Chingachgook muss seine Gefühle von nun an teilen. Sein Verhältnis zu Wildtöter wird nie wieder so innig und ausschließlich sein wie in der Zeit ihrer Junggesellenabenteuer. Ist es nicht immer so, dass eine Ehe nicht nur das Ende der Jugend, sondern auch das Ende der Freundschaften bedeutet?
Eine weitere Mail im Ordner
Unbekannt
. Das kommt selten vor. Zwei, drei Nachrichten im Ordner
Freunde und Bekannte
wöchentlich, überwiegend von Said, hin und wieder auch von Amir oder Hafis, dann natürlich der alltägliche Potenz- und Casinomüll im Spamordner, der seinen Inhalt alle zwölf Stunden selbsttätig löscht, ohne dass ich einen weiteren Blick darauf verschwenden muss, doch nun schon die zweite anonyme Nachricht an ein und demselben Tag, von der ich glaubte, sie endgültig entsorgt zu haben:
»Wenn dir etwas an Singer liegt, komm heute Nacht nach Łobzów. Gleiche Zeit, gleicher Ort.« Keine Unterschrift. – Nur derselbe Absender
tokio.shot
.
Ich kenne in Łobzów nur den Bahnhof. Und selbst dort war ich nur ein einziges Mal. Aber ich habe nie jemandem von den Ereignissen an Heilig Abend erzählt, kamen sie mir selbst doch am nächsten Morgen schon wie ein böser Traum vor. Ich hatte viel getrunken, obwohl ich gar keinen Alkohol vertrage, und hatte bereits den Esstisch in Brand gesetzt. Wer weiß, was an dem Abend wirklich passiert ist, und was nur in meinem alkoholvergifteten Kopf?
Und nun soll ich an diesen Alptraumort zurückkehren? Ich habe heute Nacht Dienst! Klar, ich könnte ein wenig früher Schluss machen. Aber woher soll tokio.shot das wissen? Warum sollte ich für Rafał Singer meinen Job aufs Spiel setzen? Was hat tokio.shot überhaupt mit Rafał zu tun? Und was ich mit tokio.shot?
Ich verlasse das Bett erst gar nicht und melde mich mit einer kurzen SMS ins Cao Dai krank. Ich stelle den Wecker auf neun Uhr. Gegen zehn Uhr fährt der letzte Zug vom Hauptbahnhof über Łobzów nach Kraków Balice. Łobzów ist der einzige Halt zwischen Hauptbahnhof und Flughafen.
Ich bin diese Strecke nie gerne gefahren, obwohl sie mich schneller zu meinem früheren Arbeitsplatz gebracht hätte. Aber dann hätte ich dort nur noch länger auf den Arbeitsbeginn warten müssen. Nur in manchen Winternächten, wenn die Straßen zugeschneit oder vereist waren und die Busse in ihren Depots festsaßen, habe ich den Vorortzug genommen. Aber gerade dieser letzte Zug am Tag, der die müden Arbeiter von der Spätschicht und die betrunkenen Fußballfans von Wisła Kraków zu ihren Plattenbauten transportierte, ließ mich immer frösteln. Mein Aufenthalt in Kraków Łobzów war reiner Zufall.
Ich schlafe unruhig, träume, wie ich am Paketband stehe, wie Charlie Chaplin in
Modern Times
, mehrmals bringe ich es zum Halt, weil das Band schneller läuft, als ich die Pakete zu sortieren in der Lage bin. Maciek schüttelt den Kopf, und obwohl er den Mund nicht aufmacht, ist mit der Geste bereits alles gesagt.
Ich nehme den Zug um 22.05 Uhr nach Balice, der letzte, der heute in diese Richtung noch fährt. Bis Łobzów dauert die Fahrt nur acht Minuten.
Um diese Zeit sehe ich nicht viel von dem Stadtteil, durch den der Zug mich schleust. Ich mag Łobzów nicht besonders, doch ziehe ich dieses Viertel der Altstadt von Krakau vor. Es wirkt wie die ältere Schwester Nowa Hutas. Hier werden mit jedem Block die Häuser jünger und grauer und die Haare der jungen Männer kürzer. Nicht alle von ihnen absolvieren gerade den Militärdienst. Womöglich fühlen sie sich aber so, zwischen bröckelnden Mietskasernen und asphaltierten Spielplätzen.
Tagsüber steht hier in den engen, schlaglöchrigen Straßen der Verkehr. Die Ampeln brauchen Stunden, bis sie von Rot auf Grün wechseln. Eine Grüne Welle kennt man hier nur vom Frühjahrshochwasser. Jedes Kind auf Krücken kommt schneller voran. – Um diese Zeit hingegen sind die Straßen menschenleer. Keine Bar, kein Restaurant, nicht mal eine Imbissbude gibt es hier, die nach Anbruch der Dunkelheit noch jemanden vor die Tür locken könnte.
Ich bin der einzige, der in Kraków Łobzów aus dem Zug steigt. Ein Bahnhofsgebäude existiert nicht. Nur eine einsturzgefährdete Unterführung
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