Die Laute (German Edition)
mit einem einzigen Aufgang führt zu diesem Bahnsteig. Sechs Gleise, davon zwei noch befahren. Der Gleisschotter und das Bahnsteigpflaster rostrot wie Wundschorf.
Auf den ersten Blick scheine ich hier ganz allein zu sein. Die nächsten bewohnten Häuser liegen mehrere hundert Meter entfernt. Am frühen Morgen steigen hier nur einige Arbeiter mit grauen, übernächtigten Gesichtern ein, zwei Stunden später dann die Schüler, die Gesichter schon ebenso müde und grau wie die ihrer Väter. Hier wirkt Krakau noch wie in einem Film von Andrzej Wajda.
Damals saß er im hinteren, stillgelegten Teil des Bahnsteigs, wo sich normalerweise niemand aufhält und wo es auch keinen weiteren Ein- oder Ausgang gibt. Der Bahnsteig endet einfach im Gleisbett.
Alles wirkt wie tot. Auf der tagsüber so vielbefahreren ulica Wroclawska ist kein einziger Wagen unterwegs. Die Fenster des nächstgelegenen Wohnblocks sind dunkel. Und das mattgelbe Licht der Bahnsteiglampen flackert, als wolle es jeden Augenblick erlöschen.
Ich entdecke den Körper auf der letzten Bank. Er sitzt vornübergebeugt da, das Kinn auf der Brust, den Oberkörper schwer auf die Unterarme gestützt, die Hände schlaff im Schoß. Immerhin sitzt er, wenn auch reglos.
Noch kann ich sein Gesicht nicht erkennen, doch bin ich mir bereits sicher, dass dort nicht jener Mann in dem unscheinbaren Straßenanzug vom Weihnachtsabend sitzt, den ich für Bogdan Wolski hielt. Selbst als ich schon direkt vor ihm stehe, erkenne ich Rafał erst, als ich sein Gesicht in meine Hände nehme. Es ist von blauvioletten Blutergüssen entstellt, die Lippen sind auf ihre doppelte Größe angeschwollen und blutverkrustet, die Augen blicken leer und scheinen mich überhaupt nicht wahrzunehmen. Sein Hemd ist zerrissen, und das, was ich von seinem Hals und seiner Brust sehe, lässt auf weitere Prellungen und tiefere Verletzungen schließen. – Ich schicke eine SMS an die Notrufzentrale. Dann setze ich mich neben Rafał, halte seine blutigen Hände, die aussehen wie meine, als Nassar sie mit einem Ziegelstein zertrümmert hat. Ich passe auf, dass er nicht von der Bank sackt und aufs Pflaster schlägt, während wir warten.
Noch vor dem Krankenwagen trifft die Polizei ein. Die Beamten wollen unsere Ausweise sehen, für sie gibt es hier nur Verdächtige, keine Opfer. Ein Ausländer, dunkelhäutig, vermutlich Araber, und ein verwahrloster Mann in zerrissenem Hemd, wahrscheinlich im Drogenrausch gestürzt oder von seinem Dealer zusammengeschlagen. Außer Hemd und Hose hat Rafał nichts am Leib, keine Brieftasche, keine Geldbörse, nichts, mit dem er sich ausweisen könnte.
Und während die beiden Sanitäter Rafał eher grob als fürsorglich auf die Bahre legen und ihnen der Widerwillen, ihn den langen Bahnsteig entlang und die hundert Stufen zur Unterführung hinunter bis zur ulica Wroclawska tragen zu müssen, unverhohlen ins Gesicht geschrieben steht, fahren mich die beiden Streifenpolizisten, anstatt mich Rafał ins Krankenhaus begleiten zu lassen, aufs Revier in Nowa Wies. Offenbar glauben sie mir meine Taubheit nicht. Vielleicht macht sie mich auch erst verdächtig.
Sie brauchen jedenfalls die ganze Nacht, bis sie einen Gebärdendolmetscher aufgetrieben und meinen schwindsüchtigen Bericht zu Protokoll genommen haben. Über tokio.shot verliere ich natürlich keine Geste. Und da ich keinen blassen Schimmer habe, was Rafał zugestoßen sein könnte, beharre ich darauf, dass es reiner Zufall war, ihn auf dem Bahnsteig in Łobzów entdeckt zu haben. Wenn sie Genaueres erfahren wollen, müssen sie schon Rafał selbst befragen, sobald er wieder ansprechbar ist. – Wahrscheinlich glauben sie mir kein Wort. Aber was können sie tun, ohne eine Anzeige, ohne Zeugen? – Nach sechs Stunden lassen sie mich endlich nach Hause gehen.
Vor mir eine sanfte Kurve. Doch können in einer Situation wie jener, in der ich mich gerade befinde, Kurven sanft sein? Immerhin eröffnet sie mir den Blick auf das Ende dieses Parcours: Ein Sperrriegel, die sandfarbene Fassade und die schiefergedeckten Zwiebeltürme des Prämonstratenserinnenklosters, am lieblichen Weichselufer gelegen, am Fuße des Salvatorhügels, tief, tief im Urstromtal. Gut, nicht übertrieben tief, aber auf meinem hohen Sattel allemal tiefer als auf meinen Schuhsohlen
.
Und noch ist das Wegende ja nicht erreicht. Kirchen und Kapellen säumen diesen Teil der Strecke, meine ganz eigenen Radwegstationen, linker Hand die weißgekalkte Kirchhofmauer der
Weitere Kostenlose Bücher