Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
Vom Netzwerk:
aufgenommen wie einen Sohn, der endlich heimgekehrt ist, und Rauf, der älteste Sohn des Scheichs, hat selbstverständlich wie ein älterer Bruder sein Zimmer und sein Herz für ihn geöffnet. Seither findet man Asis fast täglich an Raufs Seite, egal ob er im Dattelgarten arbeitet oder mit dem klapprigen Lastwagen des Scheichs einige Schafe zum Markt nach Am Sawad transportiert. Sobald sie die kurvenreiche Strecke im Wadi hinter sich gelassen haben, lässt Rauf Asis ans Steuer und ihn den Rest des Weges fahren. Und Asis mache es schon recht gut, findet Rauf. – Er ist eben durch und durch ein ruhiger und wohlwollender Lehrer.
    Für den Aufstieg brauchen sie gut eine Stunde, da sie auf dem engen Pfad nur hintereinander gehen können und der Zug sehr langsam vorankommt. Alle nehmen Rücksicht auf die Alten und Gebrechlichen, die Schwangeren und die kleinen Kinder, die noch getragen werden müssen. Aber niemand zeigt Ungeduld.
    Auf der kargen Hochebene angelangt führt der nur für die Einheimischen erkennbare Weg noch eine geraume Weile über Geröll und Schutt. Asis kommt es vor, als marschierten sie direkt in die menschen- und wasserlose Wüste hinein.
    Endlich scheint die hochgestimmte Karawane ihr Ziel erreicht zu haben. Vor Asis’ Augen öffnet sich ein großes Halbrund, offenbar ein ehemaliger Steinbruch, denn die Felswände haben dieselbe braunviolette Farbe wie die alten Wohntürme des Dorfes.
    Die Abbauseite bildet einen fast mit dem Zirkel gezogenen Halbkreis, der sich nach Osten hin öffnet, in ein benachbartes Tal, das hier, an diesem rohbehauenen Amphitheater, seinen Anfang nimmt, Und genau dazu scheinen die Dörfler diesen aufgeschnittenen Kessel zu benutzen: als Theater. Die Frauen breiten Decken und Felle auf den Bruchstufen aus, als seien es Bänke. Die Sonne steht bereits weit im Westen, im Rücken der Sitzenden, und wirft ihr Licht direkt auf den ebenen Grubenboden. Die Kulisse bietet das Wadi mit seinen rot, orange, gelb und violett leuchtenden Gesteinsadern.
    Asis fragt sich, was hier vor sich geht. Es gibt keine Musiker, keine Schauspieler. Und weder Rauf noch sonst jemand hat ihm den Sinn dieses Ausflugs erklärt, als sie ihn einluden, sich ihnen anzuschließen.
    Hier sind die Dorfbewohner, vielleicht dreihundert an der Zahl, vollkommen unter sich. Eine kleine Gruppe von Frauen und Männern unterschiedlichen Alters hat sich abgesondert und sich ganz unten an den Rand der sonnenbeschienenen Bühne gesetzt. Sie wirken in besonderer Weise aufgeregt und angespannt. Da sich auch Rauf unter ihnen befindet, steigt Asis zu ihnen hinab und setzt sich dazu.
    Alle anderen haben es sich inzwischen auf den Rängen bequem gemacht und richten nun ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Naturarena. Scheich Abdul Rahman tritt in die Bühnenmitte und begrüßt mit geradezu zeremoniellen Gesten seine Dorfgenossen anlässlich dieses Festes, zu dem man hier einmal im Jahr zum Geburtstag der Dorfgründerin ’Umm Banum zusammenkomme. Dann erklärt er den Wettkampf für eröffnet und gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Frauen des Dorfes auch in diesem Jahr ein gerechtes Urteil fällten. – Die Männer applaudieren, die Frauen lächeln milde.
    Nach dieser feierlichen Eröffnung gibt Scheich Abdul Rahman das Rund für Muhammad al-Binti, einen hageren, verschlossenen Mann aus dem Nachbarhaus, frei. Obwohl al-Binti bereits an die dreißig Jahre zählt und von seinem Vater eine große Kamelherde geerbt hat, ist er immer noch unverheiratet.
    Asis ist gespannt, was dieser Muhammad ihnen vorführen wird. Der sonst so mürrische Mann tippt sich mit dem Zeigefinger zärtlich auf die Nasenspitze, dann fährt er mit demselben Finger quer über den eigenen Hals und starrt die Zuschauer mit weit aufgerissenen Augen an. Was gebärdet der Kerl nur? Für Asis scheint das kompletter Unsinn zu sein.
    Nun streckt Muhammad al-Binti energisch die Hand nach vorn, den Handteller rechtwinklig aufgerichtet, ballt die Hand zur Faust und führt sie zum Kinn, senkt den Kopf und reckt schließlich beide Arme in den Himmel. – Was geht hier vor?, fragt sich Asis. Al-Bintis Gebärden widersprechen jeder sinnvollen Grammatik. Und dennoch fährt der Mann mit größtem Ernst fort. Und als er sich am Ende verbeugt, klatschen die Dorfbewohner, Männer wie Frauen, kräftig in die Hände.
    Fragend blickt Asis zu Rauf. Sein Freund lächelt und gebärdet zwei Wörter, die zusammen
Heiratsmarkt
ergeben. Bevor Asis nachhaken kann, was Rauf damit meint,

Weitere Kostenlose Bücher