Die Laute (German Edition)
betritt schon der nächste Kandidat die Arena.
Der Pfeil
, gebärdet er und macht eine kurze Pause, als handle es sich um den Titel oder die Überschrift für das Folgende:
Zieh den Pfeil nicht hinaus, ehe ich weiß
Wie der Schütze heißt, woher er stammt
Und wohin er gegangen ist. Zieh ihn nicht
Hinaus, ehe ich weiß, woraus der Pfeil
Geschnitzt ist, warum er abgeschossen wurde
Und mich traf. Und während ich auf eine
Antwort warte, blute ich und weiß, ich werde
Niemals wissen. Die Antwort ist der Pfeil
Die Erkenntnis trifft Asis wie ein Blitz. Und mit den anderen springt er angerührt und begeistert auf, um dieses so wehmütige Gebärdengedicht zu feiern.
Das, was hier aufgeführt wird, begreift er, hat nichts mit ihren Alltagsgesprächen zu tun. Es ist Gebärdenpoesie, fast schon Gebärdentanz. Denn zur Schönheit der sprachlichen Bilder kommt noch die Anmut der Bewegungen. Und wenn nun bei den folgenden sehr jungen Dichtern auch viel gelacht wird, dann ohne Spott und Hohn. Auch diese Kunst hat ja ihr eigenes Maß und ihren Takt.
Asis erinnert dieser Wettstreit an die
Samelun
, die Kampfgesänge der Stammeskrieger im Norden. Jeder Stamm hat seine besonderen poetischen Schlachtrufe, die dem Gegner entgegengeschleudert werden, ehe die gröberen Waffen sprechen. Manchmal aber bleibt es auch beim Wettkampf der Worte, und der Krieger mit der größten Wortgewalt trägt den Sieg davon.
Auch bei den jüngeren Dichtern hier nimmt die Körpersprache nicht selten die Pose eines Kämpfenden an. Und wenn ihre Hände beim Besingen ihrer Heldentaten oder ihrer ersten Lieben vor Eifer überschäumen, nähern sich große Gebärden ebenso rasch wie großspurige Worte der Lächerlichkeit. Aber niemandem wird in dieser Runde ein ungelenker Gebärdenvers übelgenommen. Niemand verlässt die Arena ohne Beifall. Denn alle scheinen für ihren Auftritt lange geprobt und wenig geschlafen zu haben, und alle sind mit größtem Ernst bei der Sache, auch wenn das Lampenfieber manche Hand ins Stottern geraten lässt.
Asis wundert sich, dass nur Männer bei diesem Wettstreit antreten, wo die Frauen in Am Hadidah doch sonst so hochgeachtet sind. Doch ehe er Rauf fragen kann, was es mit dieser Trennung auf sich hat, tritt sein Freund selbst in die Arena.
Rauf verbeugt sich und gebärdet dann den Titel seines Poems, das Zeichen für
Licht
und das für
jagen
oder
fangen
:
Die Schönheit des Fremden, der mich in den
Palmengarten führt, sie steht vollkommen frei
Am Abend erst gewinnt sie an Farbe
Bei Tage war sie ausschließlich schwarz
Oder weiß. Die Nacht gebärdet die Farbe
Der Tag behält sie im Gedächtnis
Rauf blickt zu Asis. Alle blicken nun zu ihm, glaubt er zumindest und errötet. So viel Ungesagtes, und doch bereits zu viel gesagt! Und nirgendwo kann er sich verstecken. Die Welt des Bedeutens und Andeutens prallt auf die leere Geste, die nichts über sich hinaus mitteilen will. Er fühlt sich erschöpft. Doch die Feier ist noch nicht zu Ende. Die Gebärdengedichte der Älteren verlangen eine ganz besondere Konzentration, weil sie fast ganz auf die ›großen‹ Gesten verzichten und das, was sie besingen, auf nahezu alltägliche Weise tun.
Asis sieht zu und träumt zugleich seinen eigenen Versen nach. Die spielenden Kinder, er
sieht
ihr Geschrei, es steigt zum Himmel auf, doch fällt nicht wieder herab. Die Erde ist ein Mehl aus toten Fischen. Mit jedem Schritt wirbelt er den mit Schuppen vermischten Staub auf. Kein Geräusch von Schritten, kein Rauschen von Blättern, kein Vogelgezwitscher, kein Streit. Hier gibt es für ihn nichts zu besingen.
Endlich haben alle Männer am Bühnenrand ihren Auftritt hinter sich gebracht. Nun betritt Scheich Abdul Rahman erneut das Rund. Inzwischen ist der Himmel im Rücken der Zuschauer rot gefärbt. Sie müssen wohl im Licht von Taschenlampen und Laternen den schwierigen Weg zurück ins Dorf antreten.
Doch bevor Abdul Rahman diese poetische Feier für beendet erklärt, suchen seine Augen in der Gruppe der aufgetretenen Dichter den jungen Gefährten seines Sohns.
Aus zuverlässiger Quelle wisse er, teilt er den Zuschauern mit, dass auch das jüngste Dorfmitglied bereits zu den Poeten zähle, wenn auch noch im Verborgenen. Ohne ihm Gewalt antun zu wollen, möchte er ihn bitten, mit einem eigenen Gedicht dieses Fest zu beschließen.
Asis schaut sich verwirrt um. Ja, es ist kein Zweifel möglich, er ist gemeint, alle Augen sind einmal mehr auf ihn gerichtet, diesmal
Weitere Kostenlose Bücher