Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
Vom Netzwerk:
erwartungsvoll, neugierig. Rauf, dieser Mistkerl, grinst ihn aufmunternd an, dann schiebt er ihn ins Zirkusrund. Die Abendröte blendet ihn. Er sieht nur dunkle Schatten auf den Steinbänken, aber die Zuschauer sehen ihn, das ernste, unwillige und gerötete Gesicht eines Siebzehnjährigen.
    Noch eine Flucht ist nicht möglich. Zu oft ist er geflohen. Von hier aus führt der Weg nur zurück ins Dorf seiner Freunde. Er beginnt zögernd, unsicher. Er weiß keinen Titel für das, was die Zuschauer nun von ihm, seinen Händen, seinem Gesicht, seinem ganzen Körper erwarten. Doch dann übernimmt der Körper, ohne die Leere in seinem Kopf weiter zu beachten, und gebärdet die Zeichen für
Dornen
und
Herz
:
    Der Himmel weiß nichts von Treue
    Geist ist aus Verrat gemacht. Mit
    Ehrlichen Gebärden kauft man keinen
    Menschen frei. Der Wissbegierige vergisst
    Tagtäglich etwas mehr. Was stürzen will
    Muss zuerst aufgerichtet sein. Und was
    Verschwinden will, erst ganz und gar bemerkt
    Doch dunkel ist es, Rattenmond und
    Teer, wenn erst der wahre Blitz mich trifft

57
    Rauf weckt ihn am frühen Morgen. Der Wagen warte schon. Im Führerhaus sitzen eng zusammengedrängt Scheich Abdul Rahman, seine Frau und der Nachbar Muhammad al-Binti. Hinten auf der Ladefläche blökt ein halbes Dutzend Schafe nach dem Rest der Herde. Rauf und Asis drängeln sich durch das Schlachtvieh, setzen sich auf Asis’ Koffer und lehnen sich mit dem Rücken an das kotbespritzte Führerhaus. Im Osten zeigt sich ein fahles Gelbgrün. In einer halben Stunde geht die Sonne auf, dann wird es hier hinten zwischen den Schafen schnell brüllend heiß werden.
    Asis’ Augen bleiben auf das Dorf gerichtet, bis das Wadi nach Westen schwenkt und die letzten Palmen hinter den teergrauen Felsen verschwinden.
    Natürlich ist Asis von Anfang an klar gewesen, dass er nicht für immer in Am Hadidah bleiben kann. Alle jungen Männer wollen fort, weil sie für sich in dem Dorf keine Zukunft sehen. Auch Rauf wird irgendwann gehen, wenn sein Vater nicht mehr stark genug ist, ihn zum Dableiben zu zwingen. Nur Asis kommt aus der großen Stadt Aden in ihr kleines Dorf, zufrieden mit einer Arbeit als Viehhirte oder Oasenbauer. Aber ihm gehört hier nichts. Er hat keine Familie, besitzt keinen Grund und Boden. Er wird hier nie eine eigene Familie gründen können. Er hat noch weniger eine Zukunft in diesem Dorf als Rauf und seine Altersgenossen.
    Menschen in Asis’ Alter leben in Erwartung von irgendetwas. Aber Asis blinzelt in die aufgehende Sonne und erwartet nichts. Nicht aus Phantasielosigkeit, sondern einfach deshalb, weil das, was sich hinter der nächsten Wegbiegung zeigt, keinen Namen mehr hat.
    Zu Beginn jeder Reise, grübelt er, muss man doch so etwas wie Freiheit empfinden. Doch denkt er an Aden, fühlt er nur Scham. Freiheit ist eine Illusion. Und jede Reise ist voller Zwängen, die die Fortbewegung dem Reisenden auferlegt. – An dieser Stelle seiner Überlegungen spürt er warmen Schafsurin auf seine Zehen spritzen, und er muss über diesen schlagenden Beweis seiner Denkergebnisse lächeln, wird aber gleich wieder ernst. Je näher der Reisende seinem Ziel kommt, denkt er, umso größer werden die Zwänge. Freiheit gibt es nur in der Gewohnheit.
    Überall auf der Welt lassen sich die Menschen an Wasserstellen nieder, die von schattigen Bäumen und fruchtbaren Weiden umgeben sind. Gut, das Wadi von Am Hadidah führt nur alle zwei, drei Jahre einmal Wasser, und von üppigen Weiden kann angesichts der Dornensteppen, in denen er mit Rauf das Vieh gehütet hat, auch nicht wirklich die Rede sein. Doch wer nur hatte die blödsinnige Idee, sich auf diesem nackten Felsen anzusiedeln, der sich heute Aden nennt und allein dazu gut ist, von ihm aus aufzubrechen an einen anderen Ort. Natürlich weiß er, wer auf diese Idee gekommen ist. Es war Kain, der erste Städtebauer. Wahrscheinlich wollte er sich und seine Kinder mit der Wahl dieses unwirtlichen Platzes für den Mord an seinem Bruder Abel bestrafen!
    Rauf packt ein paar Vorräte aus, zwei Dosen Orangensaft, ein Fladenbrot, einen Karton mit Schmelzkäseeckchen. Die Schafe beobachten sie bei ihrem Frühstück, ohne sie anzubetteln. Das Asis am nächsten stehende Schaf, jenes, das ihm auf die Füße gepisst hat, nimmt die Alufolie des Käseeckchens zwischen seine schmalen Lippen. Rasch reißt Asis sie aus seinem Maul, knüllt sie zu einem Kügelchen zusammen und schnippt es vom Wagen auf die Straße.
    Plötzlich durchströmt

Weitere Kostenlose Bücher