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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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Gesicht, blasser als das der Jungen, die den halben Tag ungeschützt vor der Sonne im Freien verbringen. Jede ihrer Gesten löst ein Gefühl nahender Ohnmacht in ihm aus. Wie viel gäbe er dafür, diese Hand zu sein, die sich zur Stütze ballt? Ja, er stellt sich diese Frage mit dem Ernst seiner vierzehn Jahre. Das Leben gäbe er dafür! Wie sie unwissentlich ihr Ohrläppchen berührt! Er spürt eine lächerliche Eifersucht auf den kleinen silbernen Ring in ihrem Ohr. Doch er bemüht sich, nichts von diesen Gefühlen zu zeigen und sich ganz dem Lautenspiel hinzugeben. Allenfalls Bilal, so glaubt er, könnte etwas von seinen wahren Empfindungen gespürt haben.
    Asis weiß, Mädchen sind nur wirklich schön, wenn sie sich unbeobachtet glauben. Sobald sie um einen Beobachter wissen, verwandelt sich die Schönheit in Befangenheit und die Befangenheit in Schauspielerei. Woher er das weiß? Er hat zwei ältere Schwestern!
    Nun lächelt sie plötzlich, scheinbar grundlos. Das Leuchten in ihren Augen versengt sein Herz. Er könnte weinen vor Glück, vor Verzweiflung. Sengt ihm jeden gesunden Menschenverstand aus dem Hirn.
    Er rennt, wie früher auf dem Fußballplatz, leichtfüßig, ohne dass ein Gegner ihn stoppen kann. Die Luft teilt sich vor ihm, während er vorwärts stürmt, und schließt sich wieder hinter ihm. Die Menschen um ihn herum stellen kein Hindernis für ihn dar. Sie bewegen sich wie in Zeitlupe vorwärts. Ohne Mühe weicht er ihnen aus, läuft um sie herum, springt über sie hinweg, stößt sich erneut ab, noch kräftiger, schnellt hinauf, schwebt, als gälten die Gesetze der Schwerkraft für ihn nicht mehr.
    Seit ich hier lebe, kann ich mich nicht erinnern, je mit Zuversicht aufgewacht zu sein. Aufwachen heißt: auf den Erdboden zurückkehren, landen. Auch wenn das Raumschiff nicht immer komfortabel und die Fahrt nicht immer vergnüglich war, bedeutet der harte Boden der Tatsachen doch immer auch die Rückkehr der eigenen Schwere.
    Die Gegenstände im Raum nehmen wieder ihre vertraute, wenn auch nicht unbedingt
wahre
Form an, das Bett, der Schreibtisch, der Kleiderschrank, so war das Zimmer bereits möbliert, als ich hier einzog, Sperrmüll vom Vormieter, und von draußen die Reflexe und Erschütterungen einer von meinem Willen unabhängigen Welt.
    Ich bleibe noch einige Minuten liegen, obwohl ich von einem Augenblick zum anderen hellwach bin, so rasch, wie andere sterben. Es war wohl eher eine Bruchlandung in der kasachischen Steppe als ein sanftes Wassern im Atlantischen Ozean. Ob ich auch so mühelos sterben werde?
    Vor einer Woche ist mein Vater gestorben. Er war schon begraben, bevor ich die Nachricht erhielt. Im Jemen werden die Toten noch am selben Tag beerdigt. Niemand hat erwartet, dass ich den weiten Weg auf mich nehme. Und ich hätte auch gar nicht das Geld dazu gehabt. Nur ein einziges Mal habe ich es mir in den vergangenen zehn Jahren leisten können, nach Hause zu fliegen. Und ich bin nicht einmal unglücklich darüber. Die wenigste Zeit habe ich bei meiner Familie in Ibb verbracht. Und selbst diese wenigen Tage sind mir lang geworden.
    Der Schock begann bereits im Flugzeug von Amman nach Aden. Nun waren fast nur noch Landsleute unter den Passagieren. Und das bedeutete ein unbeschreibliches Chaos für die ukrainischen und türkischen Stewardessen der Royal-Jordanian-Maschine. Hätte ich sprechen können, hätte ich kein Wort Arabisch mehr geredet, so sehr habe ich mich geschämt. Binnen weniger Minuten ist das ansonsten doch mehr oder weniger routinierte Bordingsystem über den Haufen geworfen. Ein Teil meiner Landsleute kann die Bordkarten nicht lesen, andere scheren sich nicht um die ihnen zugewiesenen Plätze, und wieder andere scheinen nicht einmal im Besitz einer gültigen Bordkarte zu sein. Mich wundert bis heute, dass die Maschine überhaupt gestartet ist. Familienoberhäupter sammeln ohne Rücksichtnahme auf die Ansprüche anderer ihre Angehörigen um sich, Ehemänner verbannen familienfremde Männer von den Nachbarsitzen ihrer Ehefrauen und Töchter, jeder führt sich auf, als befände er sich zu Hause im heimischen Diwan, und jeder Vermittlungsversuch der Stewardessen wird barsch zurückgewiesen oder einfach überhört, bis die erste in Tränen ausbricht und auch die anderen, selbst die Ukrainerinnen, am Ende ihre Fassung verlieren. Der Flugkapitän wird in die Kabine gerufen und macht unmissverständlich klar, dass wir uns hier in seinem Diwan befänden und seine Gäste seien. Wer

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