Die Laute (German Edition)
vollkommenen Kette.
Inajas Vater sitzt im Hof, lauscht wie die anderen, doch wehrt sich gegen die Verführung. Er sollte diesem Burschen eine Ohrfeige geben und mit seinem Vater reden. Wenn der Schuster ein verständiger Mann ist, wird er begreifen, dass das Verhalten seines Sohns beiden Familien Schande bereitet. So ein lächerliches Getue gibt es doch nur in Fernsehfilmen! Unvorstellbar, dass Inaja, Tochter einer der reichsten Familien Ibbs, je einen Schusterjungen heiraten würde.
Achmad al-Khasami ruft seinen jüngsten Sohn Hamid zu sich.
»Du bist doch mit Asis befreundet, nicht wahr?«
»Er kommt schon länger nicht mehr zum Training«, erwidert Hamid zurückhaltend.
»Dann geh zu ihm«, fordert der Vater den Jungen auf, »und richte ihm aus, er möge deine Schwester fortan in Ruhe lassen, sonst werde es ein böses Ende mit ihm nehmen!«
Asis’ Mutter zündet die Kerzen im Diwan an. Nicht, weil wieder einmal der Strom in der Altstadt unterbrochen ist, sondern weil ein lauter Donnerschlag die Fensterscheiben erzittern lässt. Seit Asis vom Blitz getroffen wurde, fürchtet sie Gewitter. In der ganzen Wohnung löscht sie das elektrische Licht und stellt selbst den Fernseher aus, ohne dass jemand zu protestieren wagte. Sie ist eine schlichte Frau, die nie die Schule besuchen durfte und kaum lesen und schreiben kann. Aber mit Elektrizität kennt sie sich aus: Ein Blitz ist nichts anderes als Elektrizität, aber in verheerender Größe! Und Elektrizität, so glaubt sie unerschütterlich, ziehe Elektrizität an.
Eigentlich müsste es doch Asis sein, der sich vor Blitz und Donner fürchten sollte. Aber das Donnergrollen und die grellen Momentaufnahmen der Welt dort draußen lassen ihn vollkommen kalt. Es scheint, als habe seine Mutter auf irgendeine magische Weise die Furcht vor Unwettern aus Asis’ Seele genommen und in ihre eigene gepflanzt.
»Was ist nur mit dir los, Junge«, klagt sie nun in die Stille zwischen den Donnerschlägen hinein. »Du hast dich verändert. Selbst Tante Raufa ist es aufgefallen. Früher hat sie dich immer in Schutz genommen, selbst wenn sie mir damit in den Rücken gefallen ist.«
Tante Raufa, die Schwester seines Vaters, wohnt im Stockwerk über ihnen. Ihrem Mann, einem Schlachter, gehört das Haus.
»Aber nun will sogar sie deine Torheiten nicht länger verteidigen!«, fährt seine Mutter im flackernden Kerzenlicht fort. »Vierzehn zu sein, bekomme dir ganz offensichtlich nicht, hat sie gesagt. Und das ist ja noch recht freundlich ausgedrückt!«
Asis liebt die Wolkenbrüche. Er lauscht dem Regen, der ihn vom Dach vertrieben hat, und dem Donner, der das Klagen seiner Mutter übertönt. Es kommt ihm wie Gefechtslärm vor, eine Schlacht mit all ihren Kanonenschlägen und ihrem Blendwerk, die einem die eigene Lebendigkeit erst wirklich spüren lässt, wie kein Frieden und kein stiller Sommertag es je könnten.
»Hast du nichts dazu zu sagen?«, versucht seine Mutter, sich in seine Gedanken zu drängen. »Es ist respektlos deiner Mutter gegenüber, wenn du einfach so dasitzt wie eine stumme Wand und mich reden lässt, als sei ich eine Fremde! Das ganze Viertel redet über dich und deinen nächtlichen Unfug, Junge!«
Asis zuckt gleichgültig mit den Achseln. Was soll er seiner Mutter auch antworten. Ja, etwas hat sich verändert. Aber er versteht es doch selbst nicht!
11
Der Maghribruf erklingt. Asis wäscht sich gründlich die Hände und das Gesicht und versucht, mit klarem Schuhfett seine wilden Locken zu bändigen. Doch anstatt sich dem Fett und seinem Willen zu beugen, ringeln sich die widerspenstigen Locken jetzt wie hässliche schwarze Rattenschwänze auf seinem Kopf.
Gerade als er aufbrechen will, klopft es an der Haustür. Dann hört er, wie Hamid seinen Namen ruft. Wann hat sein Freund ihn je Zuhause aufgesucht?
Hamid wartet in der Gasse auf ihn. Er wirft einen kurzen Blick auf Asis’ ’Ud, dann senkt er die Augen auf das graue Pflaster vor seinen Füßen.
»Mein Vater schickt mich«, sagt er schließlich. »Er will, dass du aufhörst zu spielen.«
»Dein Vater kann mir das Spielen nicht verbieten, Hamid!«
»Jeder weiß, dass du allein für Inaja spielst!«, bricht es zornig aus Hamid heraus. »Lass meine Schwester in Ruhe, Asis! Du bereitest ihr Schande!«
»Ich höre auf zu spielen, wenn sie es mir befiehlt.«
»Sie hat in dieser Angelegenheit gar nichts zu sagen, Asis. Gehorche meinem Vater, oder es wird Ärger geben.«
»Gut, dann wird es eben Ärger
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