Die Laute (German Edition)
Gescheiterte Übersetzungsversuche. So wie Programmmusiker vergangener Jahrhunderte den Klang von Flüssen, Viehherden oder Jahrmärkten in Orchesterinstrumente zu übersetzen versuchten, mühen sich meine Kollegen nun mit Hüttenwerken und Straßenbahndepots ab. Warum zwingen sie dieses altehrwürdige Instrument dazu, alles, für das es geschaffen wurde, aufzugeben und nur noch Lärm zu erzeugen? Warum nehmen sie ihn nicht direkt auf der Straße oder in den Maschinenhallen auf und spielen ihn hier ab?
Diese Versuche einer Ästhetik des Hässlichen stehen in einem verstörenden Gegensatz zur Schönheit dieses Konzertsaals, in dem ich mir eigentlich Musik von Orlando di Lasso oder Palestrina gespielt wünschte. Wenn es den hörenden Zuhörern ähnlich geht, wird auch mein Beitrag sie kaum glücklicher stimmen.
Im Grunde bestand das Komponieren ja immer nur aus einem Eliminieren und Herausfiltern aller ›hässlichen‹, als störend oder überflüssig empfundenen Laute, bis etwas Reines, Künstliches übrig blieb, das wir, im Gegensatz zum Geräusch, Klang nennen.
Doch im scheinbar Hässlichen, Ungestimmten unserer Lautheimat liegt doch unsere ganze Wahrnehmungskultur verborgen und begründet. Wer wieder hören will, muss die totale Überforderung, den Hörschaden, den Hörsturz in Kauf nehmen! Musik ist mehr als Klang, als Sprache, als Geräusch. Die Unterscheidung von ›Signal‹ und ›Rauschen‹ ist rein willkürlich. Hört euch um: In einer Klanglandschaft ist alles gleichwertig und aufschlussreich! Ihr seid nicht nur Zuhörer, ihr seid Mitspieler! Nicht nur, dass ihr filtert, auswählt, verwerft, hüstelt, flüstert, kichert, schnauft, verdaut, raschelt, röchelt, räuspert, kratzt, knurrt und furzt – geht in eurem Kopf spazieren, denn dort, nur dort ist der Klang, der ganze Klang eurer inneren Organe und Körpersäfte, eurer hohlen Knochen und mürben Gelenke, aller Luft- und Sekretbewegungen. Die Milz spielt Bach, das Herz Beethoven, unsere Hirnrinde Stockhausen. Aber eure Schwerhörigkeit ist für euch ja eine Art Überlebensprinzip!
Fünf Finalisten. Nur Männer. In der Jury ebenfalls nur Männer. Sofia Gubaidulina oder Franghiz Ali-Zadeh hätten hier keine Chance. Habe in meiner Lärmtirade die Hoden vergessen. Fraglos hat diese Musikolympiade auch etwas mit Sex zu tun, ohne dass ich es genauer benennen könnte. Diese angespannte, gleichgeschlechtlich aufgeladene Atmosphäre erhöht mein Unbehagen bis hin zu einem körperlichen Schmerz. Dabei steht mir das Schlimmste ja erst noch bevor.
Die ältere Dame neben mir scheint mein Unwohlsein zu spüren. Nun sitzt sie ja auch fast Haut an Haut an meiner Seite und nimmt wahrscheinlich meinen Geruch des Missmuts ebenso intensiv wahr wie ich ihr französisches Parfum. Ich blättere im Programmheft. Der Mann an ihrer rechten Seite heißt Rafał Singer. Ein Foto wie aus der Vogue. In Wirklichkeit sieht er noch bezaubernder aus. Und die Frau zwischen uns ist zweifellos seine Mutter. Von allen Jungkomponisten sind die Mütter anwesend. Wenn auch ein Vater sie begleitet haben sollte, muss er sich in einer der hinteren Reihen zurückgezogen haben.
Nur ich bin ganz alleine hier. Adam hätte mich vielleicht begleitet, wenn ich ihn darum gebeten hätte, aber es war gut, dass ich es nicht getan habe. Dieses schöne alte Gebäude ist für Rollstuhlfahrer nicht ausgerüstet. Allein sechsundzwanzig Stufen hat schon die prächtige Freitreppe, die zum Hauptportal hinaufführt. Und dieser großartige Konzertsaal liegt im ersten Stock, weitere achtundvierzig Eichenstufen hoch. Ich sehe hier niemanden, den ich gerne gebeten hätte, Adam mit mir hier heraufzutragen. Vielleicht hat er das alles ja gewusst und sich deshalb zurückgehalten. Nun sitzt er allein in seiner großen dunklen Wohnung und wartet auf meinen Bericht.
Ist es ein gutes oder ein schlechtes Omen, dass ich der letzte Vortragende in diesem Wettbewerb bin? Über dem Konzertflügel hängt ein großer Wandteppich, der sich über die ganze Stirnseite des Saales spannt. Das Motiv erinnert an Watteaus
Einschiffung nach Cythera
, junge Paare bei der Aufforderung zum Tanz, ein wenig steif noch, unsicher, nicht anders als wir Heutigen, die immer noch genauso wenig wissen, wie man von der Erwartung zur Tat übergeht, ohne alle Geheimnisse zu zerstören.
Nun steht er auf, geht nach vorn, verbeugt sich kurz und setzt sich an den Flügel. Rafał Singer. Ein kurzer Augenblick der Konzentration, die Augen geschlossen, die
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