Die Laute (German Edition)
plötzlich vor ihm steht.
Erst gegen Morgen schläft er endlich ein. Und als er in diesem immer noch fremden Zimmer erwacht, ist er allein. Er springt aus dem Bett und schaut auf Saids Digitaluhr neben seinem schlummernden Rechner. Es ist bereits später Vormittag. Said ist wohl längst in der Schule. Und auch er sollte heute Morgen doch seinen ersten Schultag haben. Warum hat ihn niemand geweckt?
Ali pfeift fröhlich vor sich hin, als Asis die Küche betritt. »Ausgeschlafen?«, liest er von den Lippen seines Gastgebers ab. Asis nickt mürrisch. Er weiß nicht, warum die Unbeschwertheit dieses Mannes ihn so verstimmt.
Ali schiebt ihm eine Tasse frisch aufgebrühten Tee herüber. Dann bereitet er aus allerhand geheimnisvollen Zutaten etwas zu, das verdächtig nach einem Pausenbrot aussieht, und packt dieses pralle Pita-Sandwich in eine rote Plastikdose. Den gelben Zwilling der Dose verstaut er in seiner schwarzen Aktentasche, den roten Behälter stellt er neben das Teeglas. Dann blickt er seinen Gast aufmunternd an. Asis kann weiß Gott nichts an diesem Mann finden, das in irgendeiner Weise anziehend genannt werden könnte. Gottlob muss er wenigstens das fröhliche Pfeifen nicht erdulden, das die anderen Hausbewohner unerträglich finden müssen. In den Stammesgebieten pfeift man nicht. Unter den Kabilen heißt es, das Pfeifen locke Dschinne an.
»Startklar?«, fragt Ali ihn mit jenem ermutigenden Schlag auf die Schultern, den er schon auf dem Fußballplatz gehasst hat.
Die Schule liegt in der Nähe des Flughafens. Die Direktorin erwartet sie bereits. Sie ist eine ungewöhnlich große und korpulente Frau, wie Asis sie allenfalls aus ägyptischen Filmen kennt. Kann so eine Frau Schuldirektorin sein? Ihr Gesicht ist unverschleiert, doch trägt sie natürlich ein Kopftuch, sodass Asis ihr Haar nicht sieht. Ihr rundes, faltenloses Gesicht ist von einem unschätzbaren Alter.
Sie begrüßt Asis mit einem Erdbeben von Gelächter. Dann macht sie einige komplizierte Gesten, die Asis nicht versteht. Sie schreibt es für ihn auf: »Wo ist deine Schuluniform?«
Asis schüttelt den Kopf. In seiner Schule in Ibb mussten die älteren Jahrgänge keine Uniform mehr tragen.
»Du hast recht. Eigentlich bist du schon zu alt dafür.«
Sie wechselt einige Worte mit dem Zollinspektor. Dann wendet sie sich wieder an Asis: »Du wirst zunächst in eine niedrigere Klasse gehen müssen, um die Gebärdensprache zu lernen.«
In Asis’ Gesicht regt sich kein einziger Muskel.
»Du siehst nicht gerade begeistert aus!« – Wieder erschüttert ihr dröhnendes Gelächter den Raum. »Aber du wirst deine neuen Klassenkameraden mögen!«
Asis hat da seine Zweifel.
Der Zollinspektor begleitet Asis bis zur Tür des Klassenraums.
»Findest du allein nach Hause zurück?« – Asis nickt, obwohl er nicht gleich versteht, von welchem Zuhause der Zollinspektor spricht, und als er es versteht, sich nicht wirklich sicher ist.
Etwa ein Dutzend Schüler befindet sich in dem kargen Klassenzimmer, alle zwei, drei Jahre jünger als Asis. Einen Lehrer sieht er nicht. Offenbar ist gerade Pause. Alle Augen sind auf ihn gerichtet.
Mit ausdrucksloser Miene bleibt Asis an der Tür stehen. Er versucht, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Alles hier erscheint ihm schäbig, die ockerfarbenen Schuluniformen der Schüler, die rohen Betonwände, die abgestoßenen Pulte. Außerdem ist es drückend heiß in diesem Klassenzimmer.
Nachdem sie begriffen haben, dass es sich bei Asis offenbar um einen neuen Mitschüler handelt, beginnt ein wilder Zirkus wirbelnder Hände, Münder formen überdeutlich Worte, Fragen, Karikaturen von Fragen. Asis ignoriert diese ganze unmittelbare und unverhohlene Neugier, die ausgestreckten Hände und den Glanz in den Augen, setzt sich in eine leere Bank in der letzten Reihe und fragt sich, wie lange er es unter diesen Tauben aushalten wird.
Er nimmt die andauernden Erschütterungen auf dem schwingenden Betonboden wahr. Es muss sehr laut in diesem Klassenraum zugehen. Will ein Schüler mit einem Klassenkameraden reden, macht er ihn mit einem Aufstampfen der Füße auf sich aufmerksam. Trotz des offenkundigen Lärms können sie sich mühelos über den ganzen Klassenraum hinweg verständigen, solange sie einander nur sehen können. Wenn man diese wilde Art des Herumfuchtelns denn ›Verständigung‹ nennen darf.
Asis hat bisher kaum einen Taubstummen erlebt. Ein Flickschusterkollege seines Vaters und seine Frau sind
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