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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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gehörlos. Obgleich die Kinder hören können, sprechen sie wenig und undeutlich und fuchteln lieber wie ihre Eltern mit den Händen herum. Alle halten die Eltern wie die Kinder für geistig zurückgeblieben, auch wenn sein Vater immer behauptet, außer dem Gehör fehle seinem Kollegen nichts, ja in seinem Handwerk sei er sogar geschickter als alle anderen.
    Auch Asis hat in den Wochen nach seinem Krankenhausaufenthalt eine Art eigener, wenngleich primitiver Gebärdensprache entwickelt, widerwillig, notgedrungen, um sich mit den Hörenden zumindest über elementare Bedürfnisse verständigen zu können. Aber er hat sich niemals vorgestellt, mit seinen Händen je mehr auszudrücken als diese primitive Alltagsnotdurft.
    Was hier geschieht, ist anders. Asis hat solche Pantomimen nie zuvor gesehen, es sei denn bei dem einen oder anderen ausgebüchsten Irren, den die Angehörigen normalerweise in ihren Häusern verstecken. Diese Jungen können sich offenbar über Dinge austauschen, die weit über das Alltägliche hinausgehen, auch wenn sich die Gespräche im Augenblick, so viel ist ihm klar, nur um eins drehen: um ihn. Wenn nicht bald ein Lehrer auftaucht, diesem beklemmenden Gebärdenklatsch Einhalt zu gebieten, wird er aufstehen und gehen. Und wenn er geht, wird er nicht mehr hierher zurückkehren.

24
    Die plötzliche Stille entgeht ihm zunächst. Als er aufblickt, steht die Direktorin im Klassenraum. Immer noch oder erneut zeigt das runde faltenlose Gesicht der beleibten Frau ein heiteres und ungetrübtes Lachen. Sie muss älter sein, als sie auf den ersten Blick wirkt, denkt er. Ja, ihre Haut ist straff und glatt und von der Farbe ihres Haars sieht man nichts, weil nicht ein einziges unter ihrem Kopftuch hervorlugt. Doch diese durch nichts zu erschütternde Heiterkeit, die nicht nur aus der Mitte ihres mächtigen Leibes nach außen wogt, sondern ihren wahren Sitz und Ursprung in ihren Augen hat, kennt er nur von sehr, sehr alten Menschen, die genug im Leben erfahren haben, als dass irgendetwas ihnen noch ihre gelassene Heiterkeit rauben könnte.
    Neben ihr steht ein Jugendlicher oder junger Mann, nicht viel älter als Asis, sodass er ihn zunächst für einen weiteren neuen Mitschüler hält, so groß wie er selbst, doch kräftiger in den Schultern und Hüften, ein Arbeiterjunge oder Sportler.
    Die Direktorin entdeckt Asis in der letzten Reihe und wirft ihm einen verschwörerischen Blick zu. Der junge Mann an ihrer Seite überfliegt mit unsicherem Gesichtsausdruck die schweigende Schülerschar vor ihm. Anstatt sich in der Klasse einen freien Platz zu suchen, bleibt er dort vorne, die Hände in seinen Hosentaschen verborgen, neben der Direktorin stehen. Die Direktorin muss nicht um besondere Aufmerksamkeit bitten, als sie nun zur Tafel geht und die Kreide in die Hand nimmt. Alle Augen, selbst die von Asis, sind auf sie gerichtet. Sie schreibt: »Wie ihr sicher längst bemerkt habt, wird eure Klassenlehrerin Hannah in den nächsten Wochen Mutter. Deswegen übernimmt für die kommenden Monate ein junger Kollege diese Klasse. Er heißt Akram Salah Aiub.« – Sie dreht sich zur Klasse um und gibt durch ihre Gebärden zu verstehen, dass Akram direkt von der Universität komme und Sprachen studiert habe.
    »Es ist sein erster Unterricht an einer Schule«, schreibt sie dann. »Also geht gnädig mit ihm um!«
    Während sie Akram Salah Aiub die Kreide reicht, erschüttert ihr ungehemmtes Gelächter die Klasse, das den jungen Lehrer indes so wenig erheitert wie Asis eine Stunde zuvor. Dann lässt sie den jungen, sehr jungen Mann mit den erwartungsvollen Schülern allein.
    Natürlich spürte Asis keinerlei Lust, in dieser Schule mit allem noch einmal ganz von vorne anzufangen. Aber nun ist er offenbar nicht der einzige, für den hier alles neu ist. Hilflos und verlegen steht der junge Lehrer vor der Tafel, als sei er der Schüler, und vor ihm sitze das Kollegium der Prüfer. Fast tut er Asis leid. Was wird er nun mit ihnen anfangen? Sicher, es gibt Schulbücher, wie er sie aus seiner alten Schule kennt, Mathematik, Arabisch, Englisch, einige der Schüler haben sie vor sich auf dem Pult liegen. Aber der Lehrer kann sie ja unmöglich auffordern, eine Geschichte aus dem arabischen Lesebuch vorzutragen oder Stift und Heft zur Hand zu nehmen für ein Englischdiktat.
    Akram Salah Aiub schaut nun direkt in die aufmerksamen Gesichter seiner Schüler, in jedes einzelne, der Reihe nach. Während seine Augen die Bänke abschreiten, stiehlt

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