Die Laute (German Edition)
sich ein schiefes Lächeln in sein Gesicht, zurückhaltender, zerbrechlicher als das der Direktorin, aber immerhin ein Lächeln, wie Asis es bisher nicht zustande gebracht hat. Akram bittet die Schüler, mit einer Gebärde, die auch Asis versteht, Paare zu bilden. Was soll das werden? Ein Zweikampf? Dann schreibt er das Thema an die Tafel: »Wo, glaubt ihr, werdet ihr in zehn Jahren sein?«
Einige Mitschüler beginnen sofort, miteinander zu gebärden. Asis ist froh, dass er allein in seiner letzten Bank sitzt. Was können sie einander schon mitteilen außer simplen Sätzen wie ›Hier in Aden. Arbeitslos‹ oder ›In Ibb, eine Last für meine Familie’? – Asis starrt auf das zerkratze Pult und schüttelt den Kopf. Früher, vor dem ›Ereignis‹, wusste er, ohne großartig überlegen zu müssen, wo und wer er in der Zukunft sein wollte. Aber nach seinem Erwachen in der Klinik hat er darüber nicht mehr nachgedacht; nicht mehr nachdenken wollen.
Für die Gläubigen ist es einfach, für sie ist längst alles entschieden, auf- und festgeschrieben im Großen Buch Allahs. Was einer plant oder erhofft, ist da vollkommen gleichgültig. Allein die Frage ist schon lästerlich.
Asis mustert den neuen Lehrer, der nun auf dem Pult sitzt und still den gestikulierenden Schülern zuschaut. Will er ihnen mit dieser ersten Aufgabe Hoffnung machen, oder will er ihnen die Hoffnung rauben? Welche Zukunft hat denn ein Gehörloser im Jemen, wenn selbst Hörende keine Arbeit finden und nicht wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen? Nach der Schule wird jeder von ihnen froh sein, wenigstens eine Beschäftigung beim Straßenbau oder als Hafenarbeiter zu finden.
Plötzlich zupft ihn jemand am Ärmel und fragt mit einer Geste und dem Hochziehen seiner Augenbrauen, ob er sich neben Asis setzen dürfe. Er zeigt auf sich und formt mit den Lippen das Wort ›Amir‹. Dann weist er auf die anderen und berührt mit dem Zeigefinger eine Narbe am Hals und dann erneut mit der ganzen Hand die Brust. Asis begreift, dass es sich bei der zweiten Gebärde um einen gestischen Namen handelt. Klar, dass Gehörlose untereinander nicht ihre
Rufnamen
benutzen, sondern eigene, einleuchtende Gebärdennamen füreinander erfinden. – Amir blickt ihn unverwandt an. Ja, er hat doch begriffen. Was will er noch von ihm? – Asis wendet die Augen ab und starrt auf sein Pult. Es ist übersät von ins Holz gekerbten und mit Tinte ausgemalten Hieroglyphen der Langeweile.
Der fremde Junge, Amir, nimmt Asis Kopf in seine beiden Hände und dreht ihn mit sanfter Hartnäckigkeit seinem Gesicht zu. Diese Augen! Nie zuvor hat Asis einen derart offenen und unverstellten Blick erlebt. Mit einem heftigen Ruck befreit er seinen Kopf aus Amirs Händen. Amir schaut ihn erstaunt an, wiederholt seine Geste und studiert ruhig und intensiv Asis’ verschlossenes Gesicht. Dann stampft er mehrmals heftig auf, bis alle Kameraden sich umwenden und auf die beiden Schüler in der letzten Reihe blicken. Amir macht mit der rechten Hand eine schnelle Zickzackbewegung, wirft einen kurzen Seitenblick auf Asis und lächelt. Die Klassenkameraden lächeln zurück und zeichnen mit derselben Geste dieses flüchtige Z in die Luft, Asis’ neuer Gebärdenname, der, wie er bald erfahren wird, auch das Zeichen für ›Blitz‹ ist.
Asis versucht, sich diesem Malstrom der Aufmerksamkeit zu entziehen. Vergeblich. Es ist nicht einfach nur ein Informationsaustausch, der hier stattfindet, sondern eine Entladung von Energien.
Er spürt, dieser Junge in seiner Bank will ihm etwas erzählen. Aber was kann das schon sein? Unwillig blickt er Amir an. Amir bewegt seine Hände langsam und konzentriert, so wie Erwachsene mit einem Kind reden, das noch nicht sprechen kann. Er blickt nach Westen und wiegt den Kopf, als schaue er weit in die Zukunft. Ein Traum? Ein Wunsch? Offenbar geht es um Akrams Aufgabe. Nun deutet Amir auf ihr Klassenzimmer, macht es größer, eine
höhere
Schule, eine Universität. Will er Asis damit sagen, dass er davon träumt, einmal in Amerika zu studieren? – Amir nickt begeistert, Asis weiß nicht, ob über diesen Traum oder nur deshalb, weil Asis ihn verstanden hat. – Träum nur weiter, Junge!, denkt Asis. Sei froh, wenn du Arbeit in der Adener Fischkonservenfabrik findest!
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Das Gebäude der Gehörlosenschule liegt in unmittelbarer Nachbarschaft einer regulären Jungenschule, mit der sie sich den Pausenhof teilt. Hier treffen gehörlose und hörende Schüler unvermeidbar
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