Die Lautenspielerin - Roman
Gerwin boten die Hafenanlage, das bunte Treiben der Händler und Lastenträger, die Ladekräne und die majestätischen Segelschiffe, die Galeonen und Karacken, ein faszinierendes Schauspiel. Er mochte den Geruch des Meeres, der selbst mit Teer und Tang vermischt weitaus angenehmer war als der Gestank der Stadt.
»Weißt du, was Hippokrates über Städte gesagt hat, die nach Westen liegen?«, fragte Hippolyt unvermittelt.
»Dass dort die Sonne untergeht?«
»Ein rechter Vocativus, der Gerwin. Nein, Hippokrates hat behauptet, dass eine solche Lage die gesunden Ostwinde abhalte und daher ungesund sei, weil auch das Wasser dort nicht klar sei. Er führte das auf den ständig niedergehenden dichten Nebel zurück, der sich mit dem Wasser vermische und so dessen Klarheit verderbe.«
»Deshalb glauben so viele, dass das Meer das Fieber bringt?«
»Nun, ich bezweifle, dass die einfachen Leute Hippokrates’ Schriften kennen, doch wahrscheinlich wurde diese Weisheit im Volksmund überliefert. Ich halte das nicht für schlüssig, denn die Menschen, die am Meer leben, sind in der Regel robust. Aber niemand kann Krankheiten widerstehen, wenn er nicht genügend frische Nahrung hat und ihm der Dreck bis zur Halskrause steht. Außerdem bringen die Soldaten neue Krankheiten mit sich. Das ist der Grund für das Fieber, nicht das Meer!«
Gerwin ließ den Blick über die Schiffe gleiten, die gemächlich auf der ruhigen See schaukelten. Das Meer weckte Sehnsucht nach dem Unbekannten in ihm, und dabei stand er erst am Anfang.
Er musste noch so vieles lernen, um ein Heiler zu werden, auch wenn es ihm mittlerweile besser gelang, seine Kräfte zu steuern. Wenn er einen Fehler machte, war Hippolyt zur Stelle. Gerwin fuhr sich durch die halblangen Haare und dachte an die Helwigsdorffer Zeit. Öfter, als ihm lieb war, schlichen sich die Gesichter seiner Mutter, seiner Geschwister und der Anblick seines toten Vaters in seine Gedanken.
Hippolyt legte ihm den Arm auf die Schulter. »Woran denkst du, Freund? Jedenfalls nicht an unsere Fieberkranken im Hospital.«
»Glaubst du, man kann ein Leben, das man genommen hat, aufwiegen durch jene, die man rettet?«, sagte Gerwin mehr zu sich, denn er konnte sich die Schuld am Tod seines Vaters nicht vergeben.
»Lass uns ein wenig spazieren gehen, dabei denkt es sich besser. Wärest du Katholik, Gerwin, bräuchtest du mich das nicht zu fragen, weil dir dein Beichtvater die passende Buße auferlegen würde, damit du dein Gewissen reinigen kannst.«
Sie folgten der alten Stadtmauer zum Leuchtturm.
»Ein noch junger Orden ist seit einigen Jahren stark im Kommen, sie nennen sich die Jesuiten. Ihr Erfolgsrezept sind so genannte Exerzitien, eine Kombination aus Umkehr und Beichte, mit der sie ganze Landstriche missionieren. Das Volk und auch die Oberschicht lieben sie, weil sie ihnen ein verständliches Regelwerk vorlegen, das zur Erlösung führt.« Hippolyt nickte einer Kammerdienerin zu, die ihn freundlich anlächelte. »Sie hat das Fieber überstanden, weil sie sich an unsere Anweisungen gehalten hat. Sehr schön, sehr schön. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, der Glaube. Wärest du Hugenotte, dann wüsstest du, dass du völlig verderbt geboren wurdest, wie sie ja gern den Psalm 51 dafür herleiten, wo es heißt, dass wir in Schuld geboren und in Sünde von der Mutter empfangen wurden.« Hippolyt schüttelte den Kopf. »Nun gut, durch gute Taten zu Gottes Ehre kämest
du deiner Erlösung näher. Der gute Luther hat es uns leichter gemacht, indem wir glauben dürfen, dass der Sohn Gottes schon alle Schuld auf sich genommen hat, aber welchen Glauben auch immer du wählst - glauben musst du.«
Bedrückt ging Gerwin langsam neben seinem Meister her. »Hippolyt, das hilft mir nicht!«
»Nein, das weiß ich doch. Dir helfen keine schönen Worte, keine frommen Sprüche, nur das dort drinnen!« Er blieb stehen und stieß Gerwin vor die Brust. »Und dein Geist! Lass bloß nie jemanden hören, was ich dir sage, dann verbrennen sie mich doch noch irgendwann …« Hippolyt lachte leise in sich hinein, wurde jedoch plötzlich ernst, hielt Gerwin an den Schultern fest und sah ihn liebevoll an. »Arbeite an deinem Innern, Gerwin, dort ist die Quelle des Guten, eine unversiegbare Quelle, du musst nur stets nach ihr graben. Das hat ein großartiger römischer Kaiser gesagt, Marc Aurel. Und weißt du, was das Paradoxe ist? Dieser heidnische Kaiser, der aus politischen Gründen heftige Christenverfolgungen
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