Die Lautenspielerin - Roman
gesehen!«, sagte Coline. »Schnell jetzt, kommt mit in unser Haus! Ihr habt euch eine wahrhaft gottlose Zeit ausgesucht, Paris zu besuchen.«
»Und der da? Der sieht doch aus wie ein Hauptmann der Garde von Navarra«, sagte ein Kerl, der ein Beil geschultert trug.
»Der ist ein braver Katholik!«, sagte Hippolyt schnell und zeigte den Umstehenden das Medaillon einer Madonna, das Hinrik um den Hals trug. Hinrik atmete schwer und hielt sich den Bauch. Durch die Finger sickerte Blut, und Gerwin befürchtete das Schlimmste.
»Los jetzt!«, drängte Coline.
Jeanne war wieder bei Bewusstsein und sah sich suchend um. »Mein Kind. Ich habe es gerettet. Ich habe es nicht im Stich gelassen.«
»Hinrik?«, fragte Gerwin verzweifelt.
Der Verwundete schüttelte den Kopf. »Es tut mir so leid. Er ist tot.« Jeanne sackte weinend zu Boden.
Die Place de Grève war nur wenige Straßen vom Friedhof entfernt, doch mit dem verwundeten Hinrik, der von Hippolyt gestützt wurde, und Jeanne, die noch unsicher auf den Beinen war, benötigten sie mehr als zwei Stunden, bis sie in die Nähe des Platzes kamen.
»Wohin wollen die alle?«, fragte Gerwin, der Jeanne fest im Arm hielt.
Jeanne flüsterte: »Die vielen Menschen. Sie treiben unsere Brüder und Schwestern wie Vieh!«
Coline drehte sich um. »Madame, ich flehe Euch an, sprecht
nicht so. Ab heute seid Ihr Katholikin und meine Cousine aus der Bretagne. Seht nicht hin.«
Aber wie hätten sie nicht sehen können, was das entfesselte Höllenvolk tat? Die Hugenotten wurden auf die Seine zugetrieben, wenn sie sich noch auf den Beinen halten konnten, oder nackt durch den Straßenkot zum Ufer geschleift. Der Boden war nass, doch es war kein Wasser, welches die Erde tränkte, sondern das Blut Tausender unschuldiger Menschen. Verzweifelte, die im Wasser um ihr Leben rangen, wurden mit Stangen und Spießen vom Ufer oder von Booten aus immer wieder hineingestoßen, bis sie in den rot gefärbten Fluten der Seine verendeten. Das Mordgebrüll der Schlächter mischte sich mit den Todesschreien der Hingeschlachteten, Pistolenschüsse knallten, und unter den Schlägen der Plünderer barsten die Türen protestantischer Häuser. Wohin sie auch die entsetzten Blicke wandten, sahen sie nur noch größere Scheußlichkeiten, von denen sie niemals geglaubt hätten, dass Menschen dazu fähig wären.
»Gerwin«, sagte Jeanne matt und ließ den Kopf an seine Schulter sinken. »Sind wir schon tot und in der Hölle?«
»Die Teufelin sitzt in ihrem schwarzen Rock im Louvre und weist jede Schuld von sich. Aber wir werden einen Weg aus diesem Inferno finden, mein Herz.«
»Vicit et superos amor 42 « , sagte Hippolyt.
Inmitten des Infernos mussten Hippolyts Worte jedem, der noch bei Verstand war, wie das Stammeln eines Irrsinnigen erscheinen, doch für Gerwin klangen sie auf bizarre Weise hoffnungsvoll.
Windsor Castle, Berkshire Augustus 1573
Vor wenigen Minuten hatte es aufgehört zu regnen. Die Erde dampfte noch, und die Vögel kamen hungrig herbeigeflogen, um nach den Würmern zu picken, die sich vorwitzig aus der Erde gewagt hatten. Ein heftiges Gewitter war dem Sommerregen vorausgegangen und hatte die Hofgesellschaft von der Außenterrasse in die Galerie getrieben. Jetzt wurden die Türen wieder geöffnet, und die Königin trat als Erste hinaus. Elisabeth von England lachte, breitete die Arme aus, deutete einen grazilen Tanzschritt an und rief: »Musik! Es soll getanzt werden!«
Sofort brachten Lakaien Stühle und Tische heraus, und binnen weniger Augenblicke saßen die Musiker in einem Halbkreis und stimmten eine Galliarde an. Jeanne spielte mit unbeteiligter Miene. Man hatte ihr eine Laute von guter Qualität gegeben, doch mit dem außergewöhnlichen Instrument ihres Vaters konnte sie sich nicht messen. Die unvergleichliche Laute, auf der aus Noten Sehnsüchte und Träume wurden. Sie schluckte. Zuerst ihre Mutter, nun ihr Vater, ihr Mann, ihr Sohn, Guillemette und Hinrik, der tapfere Hauptmann, ohne dessen selbstlosen Einsatz sie alle in den Abwasserkanälen ihr Ende gefunden hätten, alle waren tot. Mechanisch spielte sie die Galliarde. Sie hatte überlebt, aber um welchen Preis? Für Jeanne hatte die Musik ihren Zauber verloren.
Ein stattlicher Mann fortgeschrittenen Alters tauchte hinter den Tanzenden auf. Er hatte das wettergegerbte Gesicht eines Seemanns und die Manieren eines Höflings. Ihre Stimmung hellte
sich auf. Walter Mühlich war Hippolyts Gefährte aus Klostertagen, ein stets gut
Weitere Kostenlose Bücher