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Die Lava

Die Lava

Titel: Die Lava Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Magin
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den breiten Schotterweg, der als Ring um den Krater herumführte, sondern die Pfade, die sich rechts von ihm immer wieder zum Seeufer schlängelten, zu kleinen Buchten, über Mulden und Hügel hinweg, unter mächtigen Bäumen hindurch, die ihre schweren Äste fast bis ins Wasser senkten.
    »Zeigst du mir, wo du die große böse Blase gesehen hast?«
    Clara hielt an einer Stelle, die Franziska überhaupt nicht beachtet hätte – hier gab es keine Mofetten, hier kam eigentlich kein Gas aus dem See. Es überraschte sie, dass ihre Tochter den ganzen Weg bis hierhin gegangen war, während sie selbst am Tag zuvor die Gasemissionen gemessen hatte. Offenbar war sie länger mit ihren Forschungsarbeiten beschäftigt gewesen, als es ihr vorgekommen war. Jedenfalls hielt Clara an und sagte: »Da war das. Da war die Blase.«
    Franziska beobachtete den See. Die Oberfläche spiegelte die Sonne, Lichtfunken blitzten darauf. Sie hielt nach einer Blase Ausschau, um die Beobachtung ihrer Tochter besser einschätzen zu können.
    »Mami, was ist das?«
    Da war tatsächlich etwas im See!
    Ja, da war tatsächlich etwas, aber es sah überhaupt nicht wie eine Blase aus, eher wie ein Pinguin oder ein Seehund.Nein, es war größer. Ein treibender Ast? Zu dick? Ein treibender Baumstamm? Zu kurz.
    Franziska kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Die Sonne, die im Wasser reflektierte, blendete sie.
    Das schwarze Ding tanzte wie ein schwimmender Korken, hob und senkte sich mit den sanften Wellen.
    Das war ein Mensch!
    »Bleib, wo du bist, Clara!«, rief Franziska. »Warte hier, bis ich wieder da bin.«
    Ohne lange nachzudenken, watete Franziska in den See. Er war kälter, als sie vermutet hatte. Kleine Nadeln stachen sie in die Seite. Die Kleidung sog sich mit Wasser voll und zog sie nach unten. Sie schwamm mit starken Beinstößen, doch es kostete sie sehr viel Kraft. Vor ihr im Wasser lag der Körper, aber sie schien ihm nicht näher zu kommen. Nur ganz allmählich wurde er größer, bis sie ihn endlich erreichte.
    Es war offenbar ein Mann, muskulös in einem Taucheranzug, er trieb mit dem Gesicht nach unten im See.
    Franziska stieß ihn an. Doch er rührte sich nicht. Sie hob seinen Kopf an: Überall klebte Blut, machte das Gesicht unkenntlich. Er hatte tiefe Schnittwunden über die ganze Brust verteilt, und aus einigen drang Blut. Die Wunden schienen frisch zu sein.
    »Hallo … Hören Sie mich?«
    Sie erhielt keine Antwort. Der Mann hielt die Augen geschlossen, sie bemerkte auch sonst keinerlei Reaktion.
    Sie fühlte, wie ihre Kräfte sie verließen. Sie musste schnell handeln. Ihr tapferer Rettungsversuch konnte auch sie das Leben kosten. Sie blickte zum Ufer und erkannte dort nur Clara, die zu ihrer Mutter hinsah, keine weiteren Passanten.
    Sie hakte einen Arm unter den Arm des Mannes und schwamm mit nur einem Arm zurück. Die Kälte kroch immer mehr in sie hinein, über den Arm, den sie unbewegt hielt, in ihren Oberkörper. Es fröstelte sie. Nur langsamnäherte sich das Ufer. Es schien sie mindestens ein Dutzend Schwimmstöße zu kosten, bis sie überhaupt merkte, dass es näher kam. Sie streckte die Beine nach unten, um zu prüfen, ob sie schon Boden unter sich hatte, fühlte aber nur Wasser. Noch war sie nicht in die seichte Uferzone gelangt.
    Franziska zog den bewegungslosen Körper hinter sich her. Lange stehe ich das nicht mehr durch!, fuhr es ihr durch den Kopf.
    Sie hörte ein pochendes Geräusch, ihr Herz klopfte und übertönte alle anderen Geräusche bis auf ihr lautes und angestrengtes Schnaufen. Ihr Kopf lag schon tiefer im See, mit jedem Einatmen verschluckte sie Wasser, musste mit großer Anstrengung den Mund über die Oberfläche halten und das Wasser ausspucken. Einmal verschluckte sie ein treibendes Blatt und wäre fast erstickt. Das Wasser schmeckte faulig.
    Weit entfernt, am rettenden Land, hüpfte Clara aufgeregt zwischen den Bäumen hin und her. Sie wusste, dass sie ihrer Mutter helfen musste, hatte aber keine Ahnung wie. Hilflos streckte sie die Arme aus, als könne sie Franziska an Land zaubern.
    Der See öffnete seinen Rachen und wollte sie verschlingen. Ganz deutlich merkte Franziska, wie ihre nassen Kleider sie nach unten zogen. Sie fühlte sich, als trüge sie einen Anzug aus Blei. Sie war so unendlich schwer, das Land noch so unerreichbar fern. Sie begann zu strampeln. Ihr Körper wehrte sich gegen das Ertrinken, folgte irgendeinem uralten instinktiven Programm, das nicht dem Verstand gehorchte.

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