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Die Lava

Die Lava

Titel: Die Lava Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Magin
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Für Schmidtdresdner war es Zeit, sich davonzumachen.
    »I am the son, I am the heir, of nothing in particular«, summte Joe vor sich hin und stellte sich die quer zur Liedrichtung sägenden Gitarren Johnny Marrs vor. Er zog die Vorhänge an dem großen, zum See hinausgehenden Fenster zu, um das grelle Licht, das sich in den Monitoren spiegelte, und die drückende Hitze etwas auszusperren, als Reginald MacGinnis ihn zu sich winkte.
    Zum ersten Mal bemerkte Joe in MacGinnis’ Gesicht einAnzeichen von Erschöpfung, keine körperliche Ermattung, sondern Lebensverdruss. Vielleicht, dachte Joe, ist sein Missmut ja nur ein Panzer, etwas, das ihn vor den falschen Antworten schützt, die er sich geben müsste.
    Er hatte seinem Chef gesagt, dass er das neue Ziel unbedingt betauchen wollte. Die Stelle, die der Nordengländer gefunden hatte und von der sich Neal – und auch MacGinnis – so viel versprachen. Vielleicht lag darin auch die Ursache für MacGinnis’ eigenartige Laune. Denn er ahnte, dass sie sich nun kurz vor dem Ziel befanden.
    »Im Krieg haben sie Bomben auf London geworfen, und jetzt retten wir ihre Ärsche«, merkte MacGinnis bitter an.
    »Das ist lange her«, entgegnete Joe. Dieser Anflug von nationalem Chauvinismus, so fehlplatziert und veraltet, verblüffte ihn. Er schätzte Reginald MacGinnis eigentlich völlig anders ein.
    »Sie müssen so denken, Hutter«, warf MacGinnis ein und wischte die Sorgen scheinbar mit einer Handbewegung von sich, »wegen dieser Frau, die Sie kennengelernt haben.«
    »Sie heißt Franziska Jansen«, erklärte Joe. Aber selbst, wenn er Franziska nicht getroffen hätte, dachte er, würde er nicht so dämlich national denken.
    »Wer weiß, vielleicht verraten Sie ihr alles …«
    Joe schnappte nach Luft, wollte etwas entgegnen, unterdrückte dann den Impuls. Er fühlte, wie Neal ihn neugierig anstarrte, aber als er selbst in dessen Richtung schaute, drehte Neal seinen weißen Schopf ruckartig zur Seite und versuchte, unauffällig zu wirken.
    »Das ist definitiv mein letzter Auftrag«, meinte MacGinnis und zog damit Joes Aufmerksamkeit erneut ganz auf sich, »danach werde ich in Rente gehen. Wenn Sie wüssten, Hutter, wie viele Nachrichten über angebliche Zugunglücke, Fabrikexplosionen, manchmal auch Fluten und sogar Erdbeben ich in meinem Leben schon inszeniert habe, umabzulenken, um in Ruhe eine chemische Waffe hier, eine biologische dort zu bergen. Aber was wir tun, ist ein Job mit echtem Potenzial – es hört nie auf!« MacGinnis lachte laut, aber unangenehm. »Hat man den Dreck im Irak beseitigt, kann man in Afghanistan gleich weitermachen. Manchmal passiert es aus Menschenliebe, aber noch öfter, damit die eigenen Truppen beim Einmarsch nicht behindert werden. Hier machen wir es ja des Bündnisses wegen, und weil jedem klar war, dass man etwas tun musste, als wir unsere eigenen geheimen Unterlagen über das Projekt entdeckten.«
    Joe nickte. Er hatte sämtliche Unterlagen durchgearbeitet.
    Sein Telefon klingelte, aber MacGinnis beachtete das penetrante Piepen nicht. »Doch selbst in einem der sogenannten Dritte-Welt-Länder wäre es uns nicht egal. Wir täten dort das Gleiche. Nicht, weil uns die Unterprivilegierten eines Entwicklungslandes interessieren. Nein, wenn hier etwas schiefgeht, ist langfristig die gesamte Welt bedroht. Und deswegen«, MacGinnis bohrte seinen Finger in die Luft, »deswegen würden wir es auch in Afrika tun. Weil der Erreger innerhalb von wenigen verdammten Wochen Gottes eigenes Land zerstören würde.«
    Joe dachte an die wunderschöne Vorhalle des Klosters, das sogenannte Paradies, an dem er täglich mehrmals vorbeikam. Dort hockte auf einem Pfeiler am Durchgang ein Teufelchen aus Stein, eine Skulptur aus dem Mittelalter, das die Sünden der Menschen, die an ihm vorübergingen, auf einer langen Pergamentrolle mitschrieb. MacGinnis’ Verdrossenheit und sein Zynismus steckten ihn allmählich an.
    »Manchmal«, überlegte Joe laut, »denke ich, das Leben auf der Erde wäre besser ohne uns Menschen.«
    »Sie wissen«, entgegnete MacGinnis schnell, »dass Sie jederzeit abbrechen können, wenn Sie dem Druck nicht mehr gewachsen sind.«
    Joe schüttelte den Kopf. Das hatte er auch nicht gemeint.
    Der Nordengländer seufzte auf. Joe erblickte seinen Kollegen am Monitor vor der weißen Wand mit dem großen Riss, der sich seit den Erdstößen der letzten Tage quer durch den ganzen Putz erstreckte. Ein rotes Flackern huschte über die bleiche Gesichtshaut

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