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Die Lava

Die Lava

Titel: Die Lava Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Magin
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des Nordengländers, dann schlug er reflexartig zweimal verzweifelt mit der Handfläche gegen seinen Monitor. Irgendein Programm lief wohl nicht, wie es sollte.
    »Passen Sie gut auf sich auf und achten Sie auf sich, Hutter.« MacGinnis tappte ihm mit der flachen Hand auf die Schulter. »Sie wissen, wie sehr ich Sie und Ihre Arbeit schätze.«
    Joe blickte an den großen Säulen entlang durch das dunkle Kirchenschiff zum Altar. Die Klosterkirche wirkte innen viel kleiner als von außen, ähnelte so gar nicht dem majestätischen Bollwerk, sondern schien nur düster und drückend. Joe senkte seinen Kopf und schloss die Augen.
    Es fiel ihm nicht leicht, fromme Gefühle zu entwickeln, nicht, nachdem seine Eltern beide bei einem grauenhaften Unfall gestorben waren. Wenn er sich überlegte, wie sein Großvater qualvoll gestorben war …
    Und doch spürte er noch den anerzogenen Impuls, betete manches Mal fast automatisch und ganz still um Rettung, wenn er einen Krankenwagen vorbeifahren sah, oder er dankte spontan für einen schönen Tag. Er hatte dafür gedankt, dass er Franziska begegnet war.
    Nun betete er aber für sich, dafür, dass sein Tauchgang gelang, doch er vermochte sich nicht zu konzentrieren. Immer wieder schlenderten Touristen vorbei, unterhielten sich lauter, als es dem Gebäude angemessen war.
    Joe seufzte und stand auf. Gott, wenn es dich gibt, hilf mir und schütze mich, flehte er innerlich.
    Die Geister der Erziehung ließen sich nie so leicht austreiben.
    Er trat aus der Finsternis hinaus in das gleißend helle Sommerlicht.
    »Sie haben gebetet?«
    Joe drehte den Kopf. Schon wieder MacGinnis. Er war ihm offenbar gefolgt und erwartete ihn bereits auf dem Kirchenvorplatz.
    »Ich habe es zumindest versucht …« Joe zuckte mit den Schultern.
    »Aber?«
    »Es gelingt mir nicht.«
    Bevor Joe noch befürchten konnte, MacGinnis könnte ihn auslachen, meinte sein Chef: »Na ja, schaden kann es wohl kaum.«
    »Ja«, meinte Joe etwas unsicher.
    »Verzagen Sie nicht, Hutter«, antwortete MacGinnis milde, »denken Sie daran, dass wir alle, Sie und ich, seine Geschöpfe sind.«
    So kannte Joe den Alten nicht. Kam gar kein zynischer Spruch? Oder stellte MacGinnis’ Hinweis auf Joes angebliche Verzagtheit schon die schlimmste Spitze dar?
    Sein Chef legte eine Hand fast freundschaftlich auf Joes Schulter. »Wir schaffen das!«, sagte MacGinnis dann. »Machen Sie sich keine Sorgen, Hutter. Wir finden das Zeug da unten im See.«
    Joe schwieg.
    »Sie verschließen sich, Hutter«, meinte MacGinnis besorgt. »Sie müssen sich öffnen.«
    Joe verblüffte die unerwartet väterliche Art seines Chefs.
    »Zum Beispiel diese Frau – was ist mit ihr?«
    »Das ist rein beruflich«, log Joe. Er versuchte, das Thema zu beenden, ohne MacGinnis zu verärgern.
    Sie trennten sich.
    Joe überquerte den Vorplatz der Kirche, ging an Restaurant und Buchhandlung vorbei, quälte sich durch die Massenvon Touristen, die ihm im Wege standen – die meisten im Pensionsalter. Er durchschritt die Unterquerung der Fahrstraße am See und trat auf den geschotterten Parkplatz und von dort geradewegs auf den See zu.
    Bäume und Sträucher säumten fast das gesamte Ufer, dahinter lagen ausgedehnte Schilfgebiete in der Flachwasserzone. Nur an wenigen Stellen reichte die Wiese an den See heran, eine Lücke im Ufersaum klaffte neben dem Bio-Bauernhof des Klosters. Hier sollte das Wrack geborgen werden.
    Man konnte das Gefühl mit alten Vinylplatten vergleichen. Bei Stücken, die man oft hörte, gab es immer eine Stelle, an der es knackste; je öfter man den Song mit diesem Knacks hörte, desto mehr wurde er zu einem festen Bestandteil des Lieblingsliedes, bis man es ohne diesen Knacks gar nicht mehr hören wollte.
    So war es mit Joe Hutters Angst – sie war der Knacks beim Tauchen. Angst ist ein wichtiges Gefühl. Hielte sie uns nicht zurück, würden wir zu viele gefährliche und riskante Dinge unternehmen, aber wenn wir sie nicht überwinden, dann wagen wir nichts.
    Hutter tauchte im Flachwasser, den Boden stets im Blick. Hatte er keinen festen Boden, sondern nur noch mehr Wasser unter sich, wurde ihm mulmig. Es war ein sehr atavistischer Instinkt – eine Urangst, ein Warngefühl aus einer Zeit, in der Affenmenschen in flachen Ufergewässern paddelten, in denen Krokodile und riesige Haie lauerten.
    Die Nacht über hatte es geregnet. In der Nähe des Seerandes trieben abgerissene Blätter und Zweige auf der Oberfläche, Sand war in den See gespült

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