Die Lazarus-Formel
Professor Berg.«
»Wie meinen Sie das?«, wollte er wissen.
Sie schaute ihn an. »Was wäre, wenn die Eibe ihr praktisch ewiges Leben nicht erreicht, weil sie hochgradig giftig ist, sondern dadurch, dass sie das giftige Taxan Paclitaxel, das ihre eigenen Zellen an der Teilung hindern würde, in ihre eher kurzlebigen Nadeln und die Rinde absondert?«
»Sie meinen, das Gift ist keine Waffe, sondern ein Exkrement?«, fragte Anne. »Eine … Ausscheidung?«
Eve nickte. »Der Baum lebt ewig, weil er irgendwie dazu in der Lage ist, sich selbst vom Tod zu befreien.«
Professor Berg schaute sie skeptisch an. »Worauf wollen Sie hinaus, Eve?«
»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte sie. »Wenn wir einen Weg finden, die proaktive Absonderung von wachstumshindernden Zellteilungsblockern auf den menschlichen Metabolismus zu übertragen …«
»… könnte der Mensch ewig leben«, beendete Anne den Satz, voller Ehrfurcht vor Eves Idee.
Professor Berg schloss bekümmert die Augen. »Typisch Eve Sinclair. Ein Heilmittel gegen den Krebs zu finden ist nicht genug. Sie haben nicht einmal an Ihrem Glas genippt, um einen Erfolg zu feiern, von dem die meisten Ihrer Kollegen nur träumen können, schon planen Sie ein neues Projekt. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ein Teil von mir beneidet Sie um diesen Enthusiasmus. Aber es gibt Grenzen, meine liebe Eve. Selbst für Sie. Ewiges Leben? Wir betreiben hier Wissenschaft, keine Alchemie oder Zauberei. Wir bewirken keine Wunder.«
Eve sah die Besorgnis in seiner Miene und bedachte ihn mit einem warmen Lächeln. »Sie täuschen sich, Christian.«
Er zog fragend eine Augenbraue hoch. »Tue ich das?«
Sie nickte. »Erstens: Wir bewirken Wunder.« Sie sah noch einmal zu den Sternen empor. »Und zweitens: Es gibt keine Grenzen.«
2
Naqada Manor.
Naqada Manor ist ein hochherrschaftlicher Palast im Zentrum des Königlichen Bezirks von Kensington und Chelsea im Westen Londons. Das Gebäude ist zu zwei Dritteln viktorianischen Ursprungs, zu einem Drittel aber wesentlich älter. Der Steinturm ist sogar sächsisch und somit noch zwei Jahrhunderte älter als der von William dem Eroberer errichtete Weiße Turm im Zentrum des Tower of London, wenn auch wesentlich kleiner. Seit der Einführung der Landregistrierung unter James II. im Jahr 1685 wurde Naqada Manor nie veräußert. Von der Zeit davor gibt es keine Aufzeichnungen, aber man munkelt, die festungsähnliche Anlage sei seit über eintausend Jahren im Familienbesitz.
Jetzt – ein kaum wahrnehmbares Huschen auf dem Dach. Ein schneller Schatten vor den Sternen. Jemand schlich in gebeugter Haltung über den Mittelfirst zwischen den zahlreichen Schornsteinen hindurch hinüber zum Turm.
Der Mann trug schwarze Kleidung, Handschuhe und eine Skimaske – und auf dem Rücken zwei schmale gekrümmte Schwerter in gekreuzten Lederscheiden. Die altertümlich wirkenden und mit Lapislazuli und Elfenbein verzierten Griffe ragten gerade so weit über den breiten Schultern hervor, dass der Mann die Schwerter schnell ziehen konnte, sollte das erforderlich sein. Mit der grazilen, aber kraftvollen Geschicklichkeit eines Berglöwen erklomm er die grobe Natursteinwand des Turms, schlich, oben angekommen, geschwind über die Dachplattform und sprang auf der dem Anbau abgewandten Seite in die Tiefe.
Vier Meter weiter unten landete er lautlos und leichtfüßig auf einem großen Balkon. Er drückte sich in die Schatten, mit denen er dank seiner dunklen Kleidung verschmolz wie Tinte mit schwarzem Wasser, und spähte durch die halb offene Balkontür in das dahinterliegende salongroße Arbeitszimmer.
An einem gewaltigen Chippendale-Schreibtisch aus dem späten 18. Jahrhundert saß ein großer Mann Mitte dreißig. Sein Teint erinnerte an tiefe Sonnenbräune und ließ zusammen mit dem dichten schwarzen, leicht gewellten Haar einen Ausrutscher eines seiner Kolonialherren-Vorväter in Indien oder Nordafrika vermuten. Er hatte prägnante Gesichtszüge und feine, aber starke Finger, und unter dem hochgeschlossenen knöchellangen Hausmantel aus anthrazitfarbener Seide steckte ein athletisch gebauter Körper. Alles an ihm strahlte alte Aristokratie aus. Er telefonierte gerade, und seine fast schwarzen Augen funkelten wütend.
Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Schreibtisches und mit dem Rücken zur Balkontür, standen zwei Männer in dunkelgrauen Boss-Anzügen, die beide aussahen wie eine perfekte Mischung aus Anwalt und gut durchtrainiertem
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