Die Lazarus-Formel
winkte lächelnd ab. »Das gängige Vorurteil. Hier habe ich meine besten Ideen. Hier werde ich immer wieder daran erinnert, worum es bei unserer Arbeit geht.«
Anne schaute sie fragend an.
»Um die Schönheit und die Qualität des Lebens, Anne. Darum dreht sich alles.«
Das Fragezeichen in Annes Gesicht wurde nur noch größer.
»Nur Krankheiten zu bekämpfen ist nicht genug«, machte Eve ihren Standpunkt deutlicher. »Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass kranke Menschen auch wieder gesund werden, also wirklich geheilt, nicht nur am Leben gehalten. Krebs herauszuschneiden oder zu chemotherapieren und dabei ein körperliches oder seelisches Wrack zu hinterlassen kann und darf nicht unser letztendliches Ziel sein. Damit würden wir uns kaum von den Quacksalbern und Badern des Mittelalters unterscheiden. Unser Ziel muss es sein, die Patienten so gut – verzeih das Wort – wiederherzustellen, dass sie das Leben wieder als schön empfinden und wieder nach Höherem streben, also nach einem noch besseren Leben. Denn das ist es, das den Menschen ausmacht: das Streben nach Verbesserung.«
»Stellen Sie … Ich meine: du … Stellst du da nicht zu hohe Ansprüche an dich selbst?«
»Wahrscheinlich.« Eve schmunzelte. »Aber für weniger tu ich’s einfach nicht.« Sie zwinkerte Anne zu. »Immerhin beginnen wir heute mit der Suche nach der Unsterblichkeit.«
Anne grinste schief. »Du sagst das, als wäre das nichts.«
Eve zuckte mit den Achseln. »Wir werden sehen.«
Sie führte Anne in ihr Heimbüro. Der Raum war ebenso zauberhaft eingerichtet wie der Flur und das Baldachinzimmer. Nur scheinbar ungeordnet waren gelb, orangefarben und rot lasierte Fliesen in den hellblau und weiß verwischten Glattputz eingearbeitet, und die geschliffenen Bodendielen hatte Eve in einem dunklen Türkis streichen und lackieren lassen. Das große Ecksofa war naturweiß gepolstert, die beiden Stühle und Schreibtische waren aus handgearbeitetem Teakholz, die bis zum Bersten mit Fachliteratur gefüllten Bücherregale aus unbehandeltem Treibholz. Das Ganze hatte ein mediterranes Flair.
»Ist dein Mann zur Arbeit?«, fragte Anne.
Eve sah sie erstaunt an. »Ich bin nicht verheiratet.« Ihr wurde bewusst, dass sie in all den Monaten, die Anne schon ihre Assistentin war, nicht ein privates Wort mit ihr gewechselt hatte. Und wie sie sich selbst kannte und ihre Eigenart, sich absolut auf ihre Arbeit zu fixieren, ahnte Eve, dass das nicht Annes Schuld war. Sie beschloss, das zu ändern. Immerhin hatte sie Anne an diesem Tag schon in ihr Allerheiligstes mitgenommen. Vielleicht konnten sie ja außer Arbeitskolleginnen auch Freundinnen werden. Ein wenig mehr social life konnte ganz bestimmt nicht schaden.
»Dein Freund?«, bohrte Anne nach.
»Gibt es keinen.«
»Du wohnst in dieser Prachtbude ganz allein?«
»Ja«, sagte Eve lächelnd.
»Den Mann, der irgendwann einmal hier bei dir einziehen wird, den beneide ich jetzt schon«, gestand Anne.
Eves Lächeln wurde leicht traurig. »Ich glaube, den wird es so schnell nicht geben«, sagte sie, während sie das Notebook, die Akten und die Starbucks-Becher auf einen der Schreibtische stellte. »Ich bin mit meiner Forschung verheiratet. Das hält keiner auf Dauer aus.«
Daraufhin sanken auch Annes Mundwinkel, und sie stellte ihre Sachen ebenfalls ab. »Bei mir herrscht auch totale Flaute.«
Eve zuckte erneut mit den Schultern. »Wir sind für Männer wohl noch unattraktiver als normale Karrierefrauen.«
»Ich finde dich schrecklich attraktiv«, entgegnete Anne – und wurde gleich wieder rot. »So habe ich das nicht gemeint. Ich meine, du bist eine der schönsten Frauen, die ich kenne. Äh … also nicht, dass ich an Frauen interessiert wäre. Bin ich nicht. Ehrlich nicht. Du bist einfach schön.«
»Danke. Aber das Äußere meinte ich nicht. Was ich sagen will, ist: Schlimmer noch als Frauen, die nur an ihrer Karriere interessiert sind, haben wir mit unserer ganz speziellen Arbeit auch noch eine Leidenschaft, eine Aufgabe. Eine Mission. Welcher Kerl will da schon hinten anstehen und die zweite oder vielleicht sogar nur dritte Geige spielen? Also komm. Lass uns arbeiten.«
Kurz darauf saßen sie einander an den Schreibtischen gegenüber. Sie hatten die Notebooks aufgebaut und an das Internet angeschlossen.
»Hier die Fakten«, fasste Eve zusammen. »Jeder Organismus stirbt, weil die Zellen aufhören sich zu teilen. Dann sterben mehr alte Zellen ab, als neue durch Mitose entstehen.
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