Die Lazarus-Vendetta
registrierte gelangweilt, dass ein weiterer Verdächtiger, den er für den Mörder gehalten hatte, nicht mehr unter den Lebenden weilte. Dann gähnte er und streckte sich. Mitternacht war schon lange vorüber, aber er hatte noch immer zwei Stunden in seiner Schicht. Er verlagerte unbehaglich das Gewicht auf seinem Drehstuhl, rückte den Griff der Pistole im Halfter an seiner Hüfte zurecht und kehrte wieder zum Buch zurück. Ihm fielen die Augen zu.
Ein leises Klopfen an der Glastür weckte ihn. Yiu hob den Kopf und erwartete, einen der halb verrückten Stadtstreicher zu sehen, die sich manchmal von Berkeley hier heraus verirrten. Stattdessen sah er eine kleine Rothaarige mit einem ängstlichen Ausdruck auf dem Gesicht. Von der Bay war Nebel aufgezogen, und sie sah aus, als sei ihr kalt in ihrem engen blauen Rock, der weißen Seidenbluse und dem modischen schwarzen Wollmantel.
Der Wachmann rutschte von seinem Stuhl, strich sein khakifarbenes Uniformhemd samt Krawatte glatt und ging zur Tür. Die junge Frau lächelte erleichtert, als sie ihn kommen sah und versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war jedoch verschlossen.
»Tut mir Leid, Ma’am«, rief er durch das Glas. »Das Gebäude ist geschlossen.«
Auf ihrem Gesicht erschien wieder der ängstliche Ausdruck. »Ich brauche nur schnell ein Telefon, um bei Triple-A anzurufen«, erklärte sie mit jammerndem Unterton. »Mein Wagen ist ein Stück die Straße runter liegen geblieben, und jetzt ist der Akku von meinem Handy auch noch leer!«
Yui dachte einen Augenblick darüber nach. Die Vorschriften waren ziemlich klar: Keine unbefugten Besucher nach Feierabend. Andererseits brauchte keiner seiner Vorgesetzten jemals zu erfahren, dass er beschlossen hatte, den guten Samariter für diese verängstigte junge Frau zu spielen. Das ist meine gute Tat für diese Woche, entschied er. Außerdem war sie ziemlich hübsch, und für Rothaarige hatte er schon immer eine unerwiderte Leidenschaft gehabt.
Er fischte die Schlüsselkarte für das Gebäude aus seiner Hemdtasche und zog sie durch das Schloss. Es summte kurz und öffnete sich. Mit einem einladenden Lächeln zog er die schwere Glastür auf. »Kommen Sie rein, Ma’am. Das Telefon ist direkt …«
Das Pfefferspray traf ihn voll in die Augen und den offen stehenden Mund. Er krümmte sich nach vorn, blind, nach Luft ringend und hilflos. Bevor er auch nur versuchen konnte, nach seiner Waffe zu tasten, flog die Tür weit auf und warf ihn rücklings auf die glatten Fliesen der Halle. Mehrere Leute stürmten durch die offene Tür in die Lobby. Kräftige Hände packten ihn, bogen ihm die Arme auf den Rücken und fesselten seine Handgelenke mit seinen eigenen Handschellen. Jemand anderer zog eine Kapuze über seinen Kopf.
Ein Frau beugte sich zu ihm herab und flüsterte ihm ins Ohr. »Vergiss nicht! Lazarus lebt!«
Als Yuis Ablösung eintraf und ihn befreite, waren die Eindringlinge längst verschwunden. Doch das nanotechnologische Labor von Telos war vollkommen verwüstet: überall zerschlagenes Glas, ausgebrannte Elektronenrastermikroskope, zerlöcherte Stahltanks und verschüttete Chemikalien. Die Slogans der Lazarus-Bewegung, die über die Wände, Türen und Fenster gesprüht waren, ließen keinen Zweifel daran, wer die Verantwortlichen dafür waren.
Zürich, Schweiz
Als sich die kraftlose Herbstsonne allmählich dem Zenith näherte, schwärmten bereits tausende von Demonstranten durch die Straßen zu Füßen des bewaldeten Hügels, der auf die Altstadt von Zürich und die Limmat hinabsah. Sie blockierten sämtliche Straßen um die in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Eidgenössische Technische Hochschule und die Universität von Zürich.
Rote und grüne Lazarus-Banner schwankten über den Köpfen der Menge und selbstgemachte Schilder, die ein Verbot für sämtliche nanotechnologischen Forschungsprojekte in der Schweiz forderten.
Mit Gummiknüppeln und Schutzschilden aus Plastikglas bewaffnete Einheiten der Bereitschaftspolizei warteten ein paar Querstraßen von der Menge der Demonstranten entfernt. Gepanzerte Wasserwerfer und Tränengaswerfer parkten in der Nähe. Doch die Polizei schien nicht die geringste Eile damit zu haben, einzugreifen und die Straßen zu räumen.
Dr. Karl Friedrich Kaspar, der Leiter eines der jetzt unter friedlicher Belagerung stehenden Labors, wartete gereizt hinter den Polizeibarrikaden unweit der oberen Station der Züricher Polibahn, der vor mehr als hundert Jahren gebauten Seilbahn zur
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