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Die Lebensfreude

Die Lebensfreude

Titel: Die Lebensfreude
Autoren: Emil Zola
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wird. Anfangs hatte sie nicht verstanden, denn die technischen Ausdrücke, die sie erst im Wörterbuch nachschlagen mußte, stießen sie ab. In der Folge aber erriet sie die Notwendigkeit einer Methode und so hatte sie sich an die »beschreibende Anatomie« geklammert, ehe sie zu der »Abhandlung über Physiologie« überging. So lernte das vierzehnjährige Kind, wie in einer Schulaufgabe das, was man sonst vor den Jungfrauen bis zur Hochzeitsnacht geheim hält. Sie durchblätterte die Bildertafeln der Anatomie, diese herrlichen Tafeln voll blutiger Wirklichkeit; sie hielt sich bei jedem Organe auf, durchforschte die geheimsten, jene, aus denen man die Scham der Frau und des Mannes gemacht hat. Sie fühlte diese Scham nicht, sie war ernst und ging von den Organen, die das Leben geben, zu denen über, die es regeln, durch ihre Liebe zur Gesundheit von fleischlichen Gedanken entfernt und gerettet. Die allmähliche Entdeckung dieser menschlichen Maschine erfüllte sie mit Bewunderung. Sie las dieses Buch leidenschaftlich, niemals hatten ihr früher weder die Feenmärchen noch Robinson das Verständnis so erweitert. Die »Abhandlung über Physiologie« war dann eine Erläuterung zu den Tafeln, nichts blieb ihr verborgen. Sie fand selbst ein »Handbuch der Pathologie« und der »medizinischen Klinik«, sie drang bis in die ekelhaftesten Krankheiten ein, in die Behandlung jeder Zersetzung. Vieles natürlich entging ihr, sie hatte nur eine Ahnung dessen, was man zur Pflege der Leidenden wissen mußte. Ihr Herz brach vor Mitleid, ihr alter Traum vom allseitigen Wissen, um alles heilen zu können, wurde wieder lebendig.
    Jetzt wußte Pauline, warum der Blutfluß ihrer Mannbarkeit wie aus einer reifen, bei der Weinlese zerquetschten Traube hervorgesprudelt war. Im Drange der Lebensflut, die sie aufsteigen fühlte, stimmte sie dieses jetzt erhellte Geheimnis nachdenklich. Sie behielt eine Verwunderung und einen stillen Groll gegen die Tante, weil diese sie in vollkommener Unwissenheit zu halten suchte. Warum ließ man sie derartig sich entsetzen? Das war nicht richtig, es war nichts Böses, wenn man darum wußte.
    Während zweier Monate zeigte sich im übrigen nichts wieder. Frau Chanteau sagte eines Tages:
    »Wenn du das wie im Dezember wiedersiehst, du erinnerst dich doch, so erschrick nicht im geringsten ... Es wäre besser.«
    »Ja, ich weiß es«, entgegnete das Mädchen gelassen.
    Ihre Tante blickte sie voller Bestürzung an.
    »Was weißt du denn?«
    Der Gedanke, daß sie log, um ihre Lektüre noch länger zu verheimlichen, ließ Pauline nun erröten. Das Lügen war ihr unerträglich, sie zog das Geständnis vor. Als Frau Chanteau die auf dem Tische liegenden Bücher aufschlug und die Abbildungen bemerkte, blieb sie wie versteinert stehen. Sie hatte sich solche Mühe gegeben, die Liebschaften Jupiters unschuldig hinzustellen! Lazare hätte wahrhaftig derartige Abscheulichkeiten unter Verschluß halten müssen. Sie fragte die Schuldige lange, mit großer Vorsicht und mit Anspielungen jeder Art aus. Aber Pauline setzte sie mit ihrer ehrlichen Miene vollends in Verlegenheit. Was? Man war so geschaffen, und das war nichts Schlimmes. Ihre rein geistige Leidenschaft kam zum Ausbruch; noch erwachte keine duckmäuserische Sinnlichkeit in diesen großen, klaren Kinderaugen. Sie hatte auf demselben Brette Romane gefunden, die sie nach den ersten Seiten angewidert hatten; sie langweilten sie ungeheuer, denn sie waren voll unverständlicher Redensarten. Ihre Tante, immer mehr außer Fassung gebracht, zugleich aber in einer Hinsicht beruhigt, begnügte sich damit, den Bücherschrank zu verschließen und den Schlüssel an sich zu nehmen. Nach acht Tagen lag dieser von neuem herum und Pauline gestattete sich dann und wann, zur Erholung, ein Kapitel über die Nervenkrankheiten, wobei sie an ihren Vetter dachte, oder eines über die Behandlung der Gicht mit dem Gedanken, ihrem Onkel Erleichterung verschaffen zu können.
    Übrigens nahm man trotz Frau Chanteaus Strenge in ihrer Gegenwart kaum irgendwelche Rücksicht. Auch wenn sie die Bücher nicht aufgeschlagen hätte, würden sie die paar Tiere des Hauses belehrt haben. Minouche besonders interessierte sie. Diese Minouche war ein liederliches Ding, das viermal im Jahre Junge warf. Sie, die so zart war, sich unaufhörlich putzte und aus Furcht, sich zu beschmutzen, ihre Pfötchen nur mit Zagen vor die Türe setzte, verschwand dann und wann plötzlich auf zwei und drei Tage. Man hörte
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