Die Lebenskünstlerin (German Edition)
würde heute nach so langer Pause sowieso nicht mehr zurecht kommen. Dazu kommt noch die körperliche Anstrengung, und es ist überhaupt eine widerwärtige und schreckliche Arbeit.“
In krassen Details schmückt sie hingebungsvoll die Schattenseiten dieses Berufes aus.
Ich lasse sie ausreden und höre nur noch flüchtig hin, denn spätestens bei der Schilderung über unkontrollierte menschliche Ausscheidungen, muss ich mit meinen, wahrscheinlich überzogenen, Ekelgefühlen kämpfen.
Endlich bekommt sie die Kurve und bringt das Thema auf ihre gegenwärtige oder zukünftige Situation.
„Möglicherweise mache ich noch mal eine Ausbildung“, sinniert sie und wühlt dabei in ihrer schicken rosafarbenen Handtasche nach ihrem Handy, welches sich durch Brummen bemerkbar macht. Entschieden drückt sie den Anrufer weg und murmelt verächtlich so was wie: „Schon wieder der Arsch.“
Während sie das kleine Mobiltelefon wieder in eine der Seitentaschen verschwinden lässt, erklärt sie mir: „Weißt du Selina, zwar sollte das Thema Beruf oder meinetwegen Berufung auch mein Thema sein, aber so sonderlich interessiert mich das nicht. Es ist eher die Notwendigkeit, irgendwann Geld verdienen zu müssen und nicht, weil ich Interesse an etwas Neuem habe oder gar irgendwelche vermeintlichen Talente ausleben will.“
Carmen schüttelt heftig den Kopf: „Das ist mir wirklich egal. Außerdem möchte ich mich mit dem Thema erst befassen, wenn ich es unbedingt muss. Nämlich, wenn nach der Scheidung mein Exmann keinen Unterhalt mehr bezahlen braucht.“
Die gute Carmen glaubt offensichtlich nicht an die Berufung. Dabei vermute ich besonders bei ihr leidenschaftliches Potential, um spannende Projekte zu bewerkstelligen. Sie ist intelligent und zielorientiert. Na ja, es ist nicht der richtige Zeitpunkt.
Abends telefoniere ich mit Tim, meinem Ältesten. Ich berichte ihm von der Monotonie in der Bäckerei, plaudere über die Beigeisterung, von der Ben über seinen Job berichtet und dass ich bald auf die vierzig zugehe und noch immer keinen Plan habe.
Natürlich bin ich auf seinen Beitrag gespannt. Doch dazu muss ich beharrlich nachfragen, bis er endlich anfängt zu erzählen:
„Du weißt ja, schon als Junge liebte ich es, in der Erde zu buddeln, meine eigenen Radieschen und Erbsen zu ernten.“ Ja, das kann ich als Mutter absolut bestätigen.
„So kam für mich nur eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner in Betracht. Ich liebe diese Arbeit, den Kontakt mit der Natur, mit den Menschen und die absolute Vielseitigkeit, die ganze Atmosphäre“.
Tim schwärmt euphorisch von seiner Arbeit, seiner Berufung? Offensichtlich.
“Jeden Morgen freue ich mich auf den neuen Tag. Es ist tatsächlich mein Traumjob, auch in Bezug auf meine letzte Gehaltserhöhung.“ Sein Lachen wirkt echt. Tim scheint tatsächlich begeistert, wie er sich da in Rage redet.
Fasziniert höre ich dem sonst so gelassen wirkenden, jungen Mann zu. Sprachlos lasse ich seine Worte voller Freude auf mich wirken.
Als ihm wieder bewusst wird, dass seine Mama am anderen Ende der Leitung ist, appelliert er an meine Kreativität: „Du kannst doch in der Bäckerfiliale Zettel und Stift neben die Kasse legen und immer, wenn dir ein Vers oder eine Gedichtszeile einfällt, dies sofort aufschreiben. Sogar ein paar Skizzen könntest du anfertigen und gegebenenfalls zu Hause ausarbeiten. Was spricht dagegen?“
Das ist ein guter Vorschlag. Blitzartig bin ich unaufhaltbar motiviert. Interessante Themen, über die ich schreiben kann, gibt es ja genug in meinem Leben: Verlorene Kindheit, Ehe mit einem Alkoholiker, Beziehungskrisen, Männersuche, Berufung, Sinnsuche und unendlich mehr.
Wenn ich mit natürlichen Worten etwas Interessantes erzähle, liest das sicherlich jeder gern. Es muss ja nicht authentisch sein. Ich kann ja die Wirklichkeit neu erfinden. Meine überflüssige Neigung zu aufregenden Fremdwörtern und unergründlichen und abgehobenen Formulierungen werde ich weglassen: Ein schlichter Stil ist schließlich das Ergebnis schwerer Denkarbeit.
Während ich mir abends einen Salat zubereite, geht mir dieses lange Telefonat mit Tim abermals durch den Kopf. Wie stolz er von seiner Arbeit schwärmte. Bis dahin ist es ein schwieriger Weg gewesen. Er besuchte das Gymnasium, hatte richtig gute Noten und beschloss rigoros mit dem Realschulabschluss abzugehen, da er unbedingt eine Lehre antreten wollte.
Sicherlich auch durch die damals unsichere häusliche Situation
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