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Die Lebenskünstlerin (German Edition)

Die Lebenskünstlerin (German Edition)

Titel: Die Lebenskünstlerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ute R. Albrecht
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Sterben nur möglich, wenn man sich selbst treu ist und sein Leben bewusst lebt. Dazu braucht es freilich eine große Dosis Disziplin, um das eigene Leben ständig zu hinterfragen, um auf die innere Stimme zu hören und den Mut aufzubringen, ihr zu folgen. Mit Entschlossenheit die lähmenden, eingrenzenden Ängste zu überwinden. Schöne Vorstellung, wirklich.
     
    Am Tag der Beerdigung ist es außergewöhnlich kalt und stürmisch. Der Regen prasselt mit immenser Wucht unaufhörlich auf die aufgeweichte Erde.
    Meine restliche Verwandtschaft aus Seligenstadt begrüße ich zurückhaltend. Auf dem Friedhof hat ein jeder seine Trauermaske aufgesetzt und ich halte mich ebenso daran. Zumal ich mit den zwei Cousinen und dem Cousin, der geschwätzigen Tante und dem depressiven Onkel sowieso selten Kontakt habe. Wir kennen uns, sagen Hallo und begegnen uns ausschließlich anlässlich irgendwelcher Trauerfeiern.
    Der hagere, bleiche Cousin hat offenbar die depressive Ader seines Vaters geerbt. Mit glasigen, ausdruckslosen Augen reicht er mir seicht das klebrige Händchen. In seiner Gegenwart spüre ich buchstäblich den Eingang zum Jammertal.
    Seine rotwangige Schwester hat sich in einen viel zu engen Rock gepresst, der über dem Bund einen scheußlichen Blick auf eine fette Speckrolle preisgibt. Die Haare dauergewellt und frisch gefärbt, doch die einfältige Herkunft dringt offenkundig aus jeder Pore.
    Meine älteste Cousine steht großgewachsen und hager unter einem Dachvorsprung vor der Trauerhalle. Zugekleistert mit hoffentlich wasserfester Schminke stiert sie mit leidendem Blick in den düsteren Regen hinaus. Sie müsste jetzt Ende Dreißig sein, rechne ich grob nach, genau weiß ich es nicht. Auch sie ist vor einigen Jahren an Krebs erkrankt, ein Familienfluch?
     
    Ich wünsche und bete innig, dass mit mir die Linie unterbrochen wird, die Tradition des Schweigens und des Lügens. Die Tradition der ungelebten Gefühle, des Verdrängens. Ein Körper findet und bahnt sich seinen Weg, um das Ungewollte ans Tageslicht zu befördern. In den wunden Seelen wuchern die unterdrückten Gefühle und quellen als bösartige Geschwulst an die Oberfläche, bis ein Entrinnen zwecklos erscheint.
    Wer solch eine Krise als Aufforderung und Chance zum inneren Wachstum anerkennen kann, vermag sein Schicksal vielleicht noch zu ändern. Zumindest soll das mein Weg sein. Ich will nicht so enden wie der größte Teil meiner biologischen Verwandtschaft.
    Die folgende Trauerfeier in der Halle geht gleichgültig an mir vorüber. Ich lausche der recht emotionslos heruntergeleierten Rede des Pfarrers. Er streicht mit seiner sehnigen Hand die grauen, fettigen Haare glatt, während er mit salbigen Worten von einer herzensguten Frau berichtet. Meine Mutter kann er doch damit nicht meinen?
    Lügen. Fassade. Theater. Trauermaske.
     
    Ich beschließe, diesen schrecklichen Tag hinter mich zu bringen. Danach will ich diese Gegend und diese Sippe meiden wie eine ansteckende Seuche.
    Überdrüssig des langen Wartens in der eisigen Kälte bestärken die Gäste, oder soll ich besser sagen die Trauernden, den Pfarrer, die letzte Zeremonie nun endlich zu vollenden.
    Wie Bodyguards stehen meine Söhne rechts und links neben mir, lassen mich keine Sekunde aus den Augen. Ich wehre mich nicht dagegen, im Gegenteil, das ist Balsam für meine Seele. Schicke, dunkle Anzüge verleihen ihnen einen sehr erwachsenen Anstrich, sie sehen fabelhaft aus. Mein Mutterherz ist angefüllt mit unsagbarem Stolz auf diese prächtigen, jungen Männer.
    Während das Unwetter weiterhin anhält, versammelt sich die kleine Gesellschaft um das Grab. Der Friedhof liegt auf einem kleinen Hügel, mitten in der Natur, teils von dicken Nadelbäumen eingerahmt. Der Blick nach Süden ist unbebaut und frei, von hier aus kann man das ganze Tal überblicken.
    Doch im Augenblick kann ich kaum meine eigene Verwandtschaft erkennen, so dicht hängt der Nebel über dem Boden. Hart und geräuschvoll kracht der Regen auf die Schirme herab, die diese Last kaum noch tragen können. Furchtbares Grollen und Donnern hallt zum Tal und wieder zu uns zurück. Eine Szenerie wie in einem trivialen Gruselfilm.
     
    Der Pfarrer ringt sichtlich um Haltung. Zwei Männer versuchen mit ihren Schirmen die Nässe ein wenig von ihm abzuhalten. Seine Worte sind kaum noch zu verstehen, da der Wind sie fortträgt und das Gewitter sie verschluckt.
    Braune Schlammbäche rinnen zwischen den Gräbern entlang. Der Boden ist matschig

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